Überlegungen zur Tyrannei der Mehrheit
John Stuart Mills Konzeption der Freiheit des Individuums

Die Menschen wollen … Politische Statements, die so oder so ähnlich beginnen, sprechen Andersdenkenden in systematischer Weise das Menschsein ab. Denn egal was es ist, was die Menschen wollen – die Phrase impliziert, dass diejenigen, die das Behauptete nicht wollen, keine Menschen seien. In aller Regel dürfte es sich bei derartigen Formulierungen zwar um kaum mehr als die gedankenlose Reproduktion alberner Floskeln handeln. Trotzdem legen sie ein strukturelles Problem des politischen Diskurses bloß: Argumentiert wird prinzipiell von der Mehrheit her, Nähe zum Einzelnen wird nur simuliert. Denn die Minderheit, die Ausnahme, das Individuum spielen in Statements, die auf diese Weise vorgetragen werden, keine Rolle. John Stuart Mill reflektiert in seinem Essay Über die Freiheit (On Liberty, 1859) just diesen Umstand. Nicht mehr der Staat sei es, der den Freiheitsraum des Einzelnen in substantieller Weise einenge; das Individuum habe vielmehr unter einer Tyrannei der Mehrheit zu leiden. Auch wenn das hier sichtbar werdende, grundsätzliche Staatsvertrauen revidiert gehört – Mills vom Individuum aus entwickelter Freiheitsbegriff ist durchaus aktuell und bedenkenswert. Denn der liberale Denker versucht in kluger Weise gesellschaftliche und individuelle Interessen auszubalancieren.

Von

Ach wie sie Freiheit schrien und Gleichheit, ich hörs, ich will folgen,
Und weil die Trepp mir zu lang währet, so spring ich vom Dach.1

Entwicklung

Die Frage nach dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit ist in den letzten Jahren zu einem Thema avanciert, das heftige und ausdauernde Diskurse2 provozierte. Allen voran natürlich im politischen Feld im Zusammenhang mit dem sogenannten Krieg gegen den Terror. Dabei kann der Begriff Freiheit, selbst dann, wenn er scheinbar nur unter Verwendung einer seiner Extensionen diskutiert wird, die verschiedensten Gestalten annehmen. So wird in Georg W. Bush’ State of the Union Address (Rede zur Lage der Nation) von 2003, gehalten kurz vor dem Ausbruch des jüngsten Irakkriegs, das Wort Freiheit in zahlreichen begrifflichen Variationen gebraucht: Freiheit hat verschiedene Adressaten (Inland, Ausland), sie bezieht sich sowohl auf politische als auch auf geistige Gegenstände,3 sie wird vom amerikanischen Volk gebracht, sie wird von Gott gebracht, sie ist teleologischer Heilsbegriff und dient zur Beschreibung des gegenwärtigen Zustands.4 Neben den Freiheitsdiskursen, die unter politischen Vorzeichen stehen, sollte der jüngste Disput von einigen Hirnforschern und Philosophen über die Willensfreiheit nicht aus dem Blick geraten.5 Schließlich hätte eine fundamentale Neubewertung von Erkenntnisfähigkeit und Handlungsoptionen des Menschen die Potenz, sich auf den Diskurs im politischen Feld auszuwirken, auch wenn dieser Umstand dort in aller Regel nicht thematisiert wird.

In John Stuart Mills Essay On Liberty (1859), um den es hier vornehmlich gehen soll, steht die Frage nach den Möglichkeiten der epistemologischen Freiheit des Menschen nicht im Vordergrund, wenngleich Mill die menschliche Erkenntnisfähigkeit durchaus intensiv beschäftigte. Mills Hauptthema ist vielmehr, wie es mit der Freiheit des Individuums im Staate bestellt sei. Genauer, wie the nature and limits of the power which can be legitimately exercised by society over the individual beschaffen seien.6 Es geht Mill mithin nicht so sehr um die Frage, wie die Beziehung zwischen Untertan und Souverän gegenwärtig ist und wie sie zukünftig sein sollte. Dies wurde bereits in der Vergangenheit in den großen Vertragstheorien von Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) bis hin zu Jean-Jacques Rousseaus Contrat Social (1762) extensiv diskutiert. Mill behandelt im Gegensatz zu seinen Vorgängern vorrangig das Verhältnis der Untertanen untereinander und die Frage, wie weit es dem einen gestattet werden darf, in den Freiheitsraum des anderen einzudringen. Der (konstitutionelle) Staat tritt in seinen Überlegungen fast ausschließlich als Gesetzgeber in Erscheinung, der eine öffentliche Meinung justiziabel macht. Dass Mill in seinem Essay (wenn auch nicht ausdrücklich) zunächst an bereits bei Hobbes zu findende Argumentationen anknüpft,7 widerspricht dem nicht, rekapituliert er doch so eine staatspolitische Wegstrecke, die England bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgelegt hat und ohne die seine Überlegungen unverständlich bleiben müssten. Durch den Rückgriff auf Hobbes’ Vertragstheorie versichert er sich eines Status quo, von dem aus er weiterdenken kann. Um sich die Basis, auf der Mills Gedanken ruhen, zu vergegenwärtigen, ist es hilfreich, die Grundgedanken von Hobbes’ staatspolitischen Überlegungen kurz zu rekapitulieren.

Hobbes’ Staatstheorie geht von der Vorstellung eines spezifischen Naturzustands des Menschen aus. In ihm ist das Miteinander unreguliert, die Individuen treten einander auf derselben Ebene gegenüber, die menschliche Gemeinschaft ist hierarchielos. Der Grund für die Gleichheit aller sieht Hobbes vor allem in den weitgehend gleichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, mit denen jeder Mensch von Geburt an ausgestattet sei: was die Körperkraft betrifft, so hat der Schwächste genügend Kraft, den Stärksten zu töten.8 Die Gleichheit in den Anlagen ruft in den Menschen konsequenterweise eine Gleichheit der Hoffnung hervor;9 da jeder seinem Gegenüber an Fähigkeiten gleich ist, will er auch genauso viel besitzen wie jener. Hieraus folgert Hobbes, dass der Naturzustand der Menschen ein Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden sei, in dem, solange dieses Naturrecht jedes Menschen auf alles andauert, […] für keinen Sicherheit bestehen könne.10 Indem er zu dieser Gleichheitsvorstellung seine negative, aber vielleicht gerade deshalb realistische Anthropologie addiert, folgert Hobbes, dass sich die Menschen im Naturzustand nicht nur gleichgültig, sondern auch gleich feindlich gegenübergestanden haben müssen. Diese Überzeugung speist sich daraus, dass Hobbes das menschliche Glück als ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Objekt zum anderen begreift.11 Das Glück liege nicht im ruhigen Genuss, sondern im Streben nach mehr, ein Streben, das das Individuum gleichsam automatisch in Opposition zu seinen Mitmenschen setzt. Macht ist der Maßstab dieses Glücksbegriffs:

Konkurrenz um Reichtum, Ehre, Befehlsgewalt oder andere Macht führt zu Hader, Feindseligkeit und Krieg; denn der Weg des einen Konkurrenten zur Erfüllung seines Verlangens besteht darin, den anderen zu töten, zu unterwerfen, zu verdrängen oder abzuwehren.12

Derjenige, der sich mit Gewalt über den anderen erhebt, erlangt so in Bezug auf seine soziale Stellung und all den damit einhergehenden Konsequenzen einen nicht unbedeutenden Vorteil. Die ursprünglich horizontale Beziehung der Mensch, die Hobbes im Begriff der Gleichheit aller fasst, mutiert so zu einer vertikalen. Der lupus hominis – der Mensch – sorgt aufgrund seines Drangs zur Macht dafür, dass sich die ursprüngliche Gleichheit in eine Hierarchie auflöst, die im Endeffekt alles andere als stabil ist und jederzeit durch das Auftreten von Stärkeren umgeworfen und rekonfiguriert werden kann.

Da der Mensch erkennt, dass dieser in jeder Hinsicht unsichere Zustand der Stabilisierung bedarf, entscheidet er sich aus Eigennutz zur Schließung von Verträgen, die die große Unsicherheit lindern, die das hierarchisch zwar relativ flache, aber für den Einzelnen überaus bedrohliche System des Naturzustands mit sich bringt. Diese Verträge sind zunächst auf der Ebene der Individuen angesiedelt. Sie machen aber auch die Existenz einer Instanz nötig, die die Gültigkeit der individuell geschlossenen Verträge garantiert: den Souverän. Mit diesem wird ein Herrschaftsvertrag geschlossen, der die ursprüngliche Gleichheit der Individuen im Naturzustand endgültig zugunsten einer dauerhaften Ungleichheit, einer stabilen Hierarchie ablöst. Das ist die Entstehung jenes großen Leviathan oder besser […] jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und unsere Sicherheit verdanken.13 Dem absoluten Souverän wird die Macht zur Befriedung des kriegerischen Naturzustands von allen anderen, legitimiert kraft ihrer Gleichheit, durch einen Herrschaftsvertrag übergeben.14 Auch wenn dieser Herrschaftsvertrag zunächst nur dazu dienen mag, die Verträge der Individuen untereinander zu garantieren – von diesem Moment an sind die im Großen und Ganzen horizontalen Gesellschaftsstrukturen des Naturzustands endgültig durch eine vertikale Schichtung abgelöst, die weitreichende Folgen hat. Denn in diesem neuen Zustand ist die universitas civium dem absoluten Souverän als Untertanengemeinschaft unterstellt. Der Gewinn für den vertraglich gebundenen Bürger besteht sowohl in einer Freiheit vor als auch einer Freiheit zu: Freiheit vor willkürlichen Übergriffen, Freiheit zur Ausbildung eines nicht-beschränkten Privatraums.15 Trotz der Schaffung von privaten Freiheitsräumen, in denen die Individuen von unmittelbaren, alltäglichen Bedrohungsszenarien geschützt sind, ist die Individualfreiheit im Gesellschaftsvertrag à la Hobbes vor allem durch das Motiv der Unterordnung bestimmt.

In der Praxis musste der Freiheitsraum, den Hobbes dem Individuum in der Theorie zusprach, immer wieder gegen Über- und Eingriffe des souveränen Regenten gesichert werden. Gerade die englische Geschichte des 17. Jahrhunderts – Hobbes’ Theorie entstand während einer massiven Staatskrise (1640–60) – lässt sich als eine Abfolge aus Kämpfen um diese Freiheit beschreiben. Der Habeas Corpus Amendment Act (1679), der die Rechte der Untertanen im Falle einer Verhaftung stärkte, ist nur ein Beispiel für den langanhaltenden Kampf um Individualrechte. Dass König Karl II. (König von England und Schottland 1660–85) aufgrund dieses Gesetzes einen missliebigen Parlamentarier nicht mehr offiziell, sondern nur noch durch gedungene Häscher zurechtweisen konnte (die ihm die Nase aufschlitzten), illustriert auf grausame Weise, wie stark die Souveränität des englischen Königs durch diesen Gesetzgebungsakt gemindert wurde – und wie wenig der Monarch dies zu akzeptieren bereit war.16

Hobbes’ Theorie kann aber nicht nur als Beschreibung einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gelesen werden. Sie lässt sich auch als Reaktion auf eine allmählichen Atomisierung der Gesellschaft verstehen:17 Indem er die Notwendigkeit einer absolut souveränen Regierung betont, reflektiert Hobbes politische Ereignisse, deren zerstörerische Tendenzen er selbst miterlebt hat – und die er als einen Kampf jedes einzelnen Untertanen allein für seine Sache wahrgenommen hat. So scheint die emphatische Forderung, es könne nur einen Souverän geben,18 direkt auf die englische Verfassungsinstitution des King in Parliament Bezug zu nehmen, die staatliche Machtbefugnisse auf gleich drei Souveräne, nämlich König, Oberhaus und Unterhaus, verteilte.19

Die historischen Ereignisse im England des 17. Jahrhunderts waren jedoch nur der Anfang für eine allmähliche Ausdehnung des staatsbürgerlichen Freiheitsraums, die ihren Ausdruck auch in einer zunehmenden Demokratisierung des politischen Systems fand. Die von Hobbes in Staatsangelegenheiten eingeforderte Vernunft emanzipierte sich20 und wurde so mitverantwortlich für einen Strukturwandel der Souveränität, der mit einem Strukturwandel der Öffentlichkeit einherging.21 Im 17. und 18. Jahrhundert musste der Freiheitsraum des Individuums noch in vertikaler Richtung, sprich: gegenüber dem Souverän bzw. Staat behauptet werden; für den im 19. Jahrhundert lebenden John Stuart Mill formierte sich das Spannungsfeld, in dem sich die Individualfreiheit zu behaupten hatte, auf einer horizontalen Ebene. Individualrechte müssen aus seiner Sicht nicht mehr mit dem Souverän (d. h. einer inzwischen konstitutionellen Staatsmacht), sondern in erster Linie mit den Mitmenschen, mit den ungeselligen Gesellen22 aus einer Gemeinschaft Gleicher verhandelt werden. Durch diese gesellschaftliche Konstellation ist Mills Konzeption der Freiheit des Individuums geprägt. Das Grundübel des Krieges aller gegen alle, der eigentlich beendet schien, erweist sich wider Erwarten als noch immer aktuelles Problem. Geändert hat sich allein der verfassungspolitische Rahmen, in dem es einen neuen Frieden zu erringen gilt.

Deswegen knüpft Mill auch nicht nur bei Hobbes an, sondern kann auch zeitgenössische Konzeptionen wie die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel aufgreifen, der bereits in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) den allgemeinen Krieg, wie Hobbes ihn beschreibt, nicht etwa im Naturzustand, sondern in der Auflösung desselben: in der bürgerlichen Gesellschaft verortet.23 Auf derselben Ebene siedelt auch Mill die pressierenden Freiheitskonflikte an. Denn für ihn stellt der Souverän keine Gefahr mehr für den Bürger dar, wird er doch durch die politische Institution einer abrufbaren Regierung in Ketten gehalten.24 Die Annahme, dieser Umstand sei gleichbedeutend mit einer endgültigen Sicherung des Individuums gegen staatliche Übergriffe, weist er jedoch entschieden zurück, denn der mittlerweile vom Volk gewählte Souverän speist seine Macht aus einer ganz anderen, neuen Quelle:

It was now perceived that such phrases as self-government, and the power of the people over themselves, do not express the true state of the case. The people who exercise the power are not always the same people with those over whom it is exercised; and the self-government spoken of is not the government of each by himself, but of each by all the rest. The will of the people, moreover, practically means the will of the most numerous or the most active part of the people; the majority, or those who succeed in making themselves accepted as the majority; […] in political speculations the tyranny of the majority is now generally included among the evils against which society requires to be on its guard.25

Im Gegensatz zur monarchischen Herrschaft ist die Herrschaft durch die repräsentative Mehrheit im demokratisch konstituierten Staat überall spürbar. Denn sie geht nicht mehr auf den Absolutheitsanspruch einer einzigen, gleichsam unsichtbaren Person zurück, sondern auf das alltägliche Gegenüber, auf den Mitmenschen, der sich in bedrohlicher Weise als Gruppe formieren und das Individuum unterdrücken, ja beherrschen kann. Übt diese Gruppe ihre Mehrheitsmacht auch nicht unmittelbar aus, so übernimmt sie doch zumindest Kontrollfunktionen, indem sie das Verhalten der Minderheit taxiert und gegebenenfalls rechtliche Konsequenzen einfordert. Diese können, falls das unerwünschte Verhalten noch nicht justiziabel ist, in die Forderung nach angepassten, gegebenenfalls auch verschärften Gesetzen münden. Und die werden durch die Repräsentanten der Mehrheit verabschiedet, mit dem (niemals offen bekundeten) Ziel des Erhalts der ihnen durch den Willen jener übertragenen Macht.26

Die psychologischen Implikationen dieser Machtkonstellation sollten nicht unterschätzt werden. Mit der festen Bezugsgröße eines Souveräns, der nur aus einer natürlichen Person besteht, lebt es sich anders als mit diesem zersprengten, stetem Wandel unterliegenden Souverän neuen Typs, der allgegenwärtig ist. Auch wenn die Person des Souveräns, der sich nunmehr aus einer Versammlung natürlicher Personen zusammensetzt, vom lokalen Wirkraum des Individuums immer noch weit entfernt scheint – die Mehrheit ist bereits in seine Sphäre eingedrungen und übt ihre Herrschaft qua Meinungsdominanz aus. In dieser Situation müssen Individualrechte besonders auf der horizontalen und weniger auf der vertikalen Ebene verteidigt werden. Aus der Sicht Mills wurde diese Form der Verteidigung staatsphilosophisch bislang jedoch nur unzureichend diskutiert,27 denn die auf sozialer Kontrolle, Dominanz oder gar Tyrannei fußende Macht hat in Staatstheorien à la Hobbes keinen Ort.

Den Sachverhalt in dieser Schärfe zu formulieren, ist dabei in keiner Weise übertrieben. Selbst Mill klingt in diesem Zusammenhang nicht konzilianter:

[…] reflecting persons perceived that when society is itself the tyrant […] its means of tyrannizing are not restricted to the acts which it may do by the hands of its political functionaries. […] it practises a social tyranny more formidable than many kinds of political oppression, since, though not usually upheld by such extreme penalties, it leaves fewer means of escape, penetrating much more deeply into the details of life, and enslaving the soul itself.28

Mills Ausspruch von der Versklavung der Seele (enslaving the soul) ist als Umschreibung dafür zu lesen, dass die Sicherung der Freiheit des Individuums im demokratischen Projekt zumindest teilweise gescheitert ist. Das Eindringen des anderen in meinen Wirkungsraum besteht weiter – nicht obwohl, sondern weil sich mein Gegenüber hierarchisch mit mir auf derselben Ebene befindet. Die demokratische Herrschaft abrufbarer Repräsentanten hat diese Bedrohung nicht aufheben können. Sie hat nur den Charakter des Eingriffs in den Freiheitsraum geändert.

Diese Beobachtung führt Mill zu einem radikalen Lösungsversuch. Die Freiheit des Individuums soll auf eine neue, stabile Basis gestellt und durch ein einfaches Prinzip gesichert werden – Mills Freiheitsdoktrin29:

That principle is, that the sole end for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number, is self-protection.30

Das radikale Moment von Mills Freiheitsdoktrin besteht darin, dass das Individuum in dem nur ihn betreffenden Bereich ohne jede Einschränkung, sprich: absolut frei entscheiden darf. Hier unterliegt es grundsätzlich keiner Beschränkung, erst recht keiner moralischen, die von irgendeiner Mehrheit anderer Meinung – ganz gleich, wie groß sie sei – eingeklagt werden könnte.

Dieses Postulat Mills soll im Folgenden, vor allem anhand seines für diese Frage zentralen Textes On Liberty, kritisch geprüft werden. Dabei werden sowohl Mills Menschenbild (Kap. Die Grundlagen) als auch das darauf fußende Freiheitspostulat (Kap. Die Freiheit) dargestellt und diskutiert. Schließlich soll die Frage, inwiefern die Demokratien des 21. Jahrhunderts in dasselbe Problem verwickelt sind, anhand eines Beispiels zumindest angerissen werden (Kap. Verwicklung). Denn der Umstand, dass Mill aus der Sicht eines demokratisch verfassten Gemeinwesens schreibt, ist in diesem Zusammenhang außerordentlich bemerkenswert. Hat sich die demokratische Basis mit der Zeit auch qualitativ und quantitativ erweitert – die gesellschaftliche Verfassung, die Mill beschreibt, scheint sich nicht grundlegend gewandelt zu haben. Der immense Einfluss von Mehrheitsmeinungen auf den Handlungsraum des Individuums, den er Mitte des 19. Jahrhunderts konstatierte, dürfte in den heutigen demokratischen Systemen kaum geringer ausfallen.

Die Gesetze beispielsweise, durch die im Zuge der Panikattacken, die dem 11. September 2001 folgten, der private Freiheitsraum erfolgreich beschnitten wurde, sollten meines Erachtens als Symbol für die Durchsetzung eines zunehmenden Wunsches einer wachsenden Mehrheit nach Kontrolle über gesellschaftliche Felder verstanden werden, die lange Zeit als privat und geschützt galten. Dieser Kontrollwunsch lässt die Gesetzgebungsakte auf den ersten Blick hinsichtlich ihrer Begründung als unterbestimmt erscheinen. Aber würde Mill nicht gerade in diesem Fall einen Ansatzpunkt für den Passus seiner Freiheitsdoktrin sehen, der die Einschränkung der individuellen Freiheit aus Gründen des Selbstschutzes erlaubt? Oder handelt es sich hierbei um axiomatische Vor-Urteile und moralische Über-Zeugungen, die als Begründung zu einer als gleichsam selbstverständlich empfundenen Zurechtweisung, Züchtigung oder gar Zurichtung des Individuums durch die strafende Gesellschaft nicht herangezogen werden dürfen? Und wie würde Mill zu einer Rechtfertigung stehen, die sich solcher Argumente bediente?

Die Grundlagen

Aus einer Passage in Wilhelm von Humboldts Schrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), aus der Mill das Motto für On Liberty entlehnte31 und deren liberale Überzeugungen er sich mitunter zu eigen machte,32 geht das komplexe Gefüge von Freiheit und Erkenntnis zur Freiheit, das sich in Mills Text ganz ähnlich wie in dem von Humboldt aufspannt, besonders deutlich hervor.33 Humboldt fordert dort den Staatsmann einerseits auf, alle Freiheitsbeschränkungen für seine Bürger solange aufrechtzuerhalten, bis diese sich dagegen auflehnen. Denn ihre Auflehnung könne als sicheres Zeichen dafür betrachtet werden, dass sie, die Bürger, in diesem Stücke zur Freiheit reif seien. Andererseits konstatiert er: Denn durch nichts wird diese Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert als durch Freiheit selbst. Die bürgerliche Freiheit wird von Humboldt mithin auf zwei einander widersprechende Weisen qualifiziert: 1) Ihre Existenz ist optimale Bedingung zur Erlangung der für sie nötigen Reife. 2) Die für sie nötige Reife ist eine qualifizierte Voraussetzung für ihre Existenz. Bezeichnend ist die Stelle bei Humboldt weniger wegen ihrer gedanklichen Inkonsistenz. Entscheidend ist vielmehr, dass offenbar auch im Falle Mills scheinbar aporetisch zueinander stehende Prinzipien aufeinandertreffen. Bei ihm ist es die Frage, was den Vorrang habe, die Sicherung der Individualfreiheit oder der Fortschritt im Erkenntnisprozess der Menschheit, eine Frage, die keineswegs eindeutig zu beantworten ist.

Deswegen soll dieses Kapitel sich zunächst der anthropologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen in Mills Denken vergewissern, was bedeutet, die Linearität von Mills Text aufzulösen und das, was er argumentativ als Rechtfertigung für sein Freiheitspostulat anführt, konzeptionell als Basis seines Denkens zu fassen. Denn Mills Forderung nach umfassenden Freiheitsrechten des Individuums hängt aufs Engste mit Überlegungen zur Natur des Menschen und dessen Erkenntnisfähigkeit zusammen, die in On Liberty zwar zur Sprache kommen, dort aber die Funktion haben, sein initiales Freiheitspostulat begründet zu rechtfertigen. Auf den ersten Blick mag es unangebracht erscheinen, Mills Rechtfertigung vor der Analyse seines Postulats zu analysieren. Allerdings könnte eine Reproduktion der Reihenfolge, die Mill wählte, als Darstellung eines Kausalverhältnisses missverstanden werden, frei nach dem Schema:

  • Bedingung = Sicherung der Freiheit des Individuums;
  • Folge = Fortschritt im Erkenntnisprozess der gesamten Menschheit.

Tatsächlich lässt sich Mills Argumentation nicht auf ein derart schlichtes Bedingungsgefüge reduzieren. Später wird man sehen, dass die Kausalität in Mills Argumentationsgang nur eine vermeintliche ist, die Bezüge sich vielmehr umkehren lassen. Der Gewinn dieser Umkehr seiner Textlogik ist die Verdeutlichung, dass es sich bei Mills Gedankengang nicht etwa um eine Gedankenfolge, sondern ein Gedankenkontinuum handelt. Grundlage und Forderung stehen in keinem hierarchischen oder taxonomischen Verhältnis zueinander: Ohne seine Forderungen wären die Grundlagen nicht denkbar, ohne die Grundlagen ergäbe sich keine seiner Forderungen. Das, was hier in den beiden zentralen Kapiteln zeilenweise, in linearer Folge erzählt wird, sollte darum in seiner Konsequenz als Kreisstruktur ohne Anfang und Ende gedacht werden – wobei der Kreis, um im Bild zu bleiben, auch durchquert und nicht nur umrundet werden kann.

Dass Mills Analyse nicht kapitelweise gefolgt wird,34 trägt diesem Umstand ebenfalls Rechnung. Denn der essayistischen Textoberfläche von On Liberty liegt eine gedankliche Struktur zugrunde, die insofern Systemcharakter hat, als die einzelnen Elemente nicht getrennt voneinander zu verstehen sind, sondern einen rhizomatischen Wirkzusammenhang bilden. Darum muss auch die Verwendung des Begriffs Grundlagen als eine behelfsmäßige verstanden werden, weil sie ein Bild evoziert, das dem Phänomen eigentlich nicht gerecht wird – denn in einem idealen Kreis gibt es keinen Ursprung, keine Basis, weder oben noch unten. Aus heuristischen Gründen wird jedoch an ihm festgehalten, zum Schluss wird die Rede von den Grundlagen sich gleichsam von selbst weggedacht haben.

Erkenntnistheoretische Grundlagen

Das epistemologische Modell, das Mill in On Liberty umreißt, zeichnet sich in erster Linie durch seine Prozesshaftigkeit aus. Die menschliche Fähigkeit, Erkenntnisse zu erlangen, ist in ihm nicht primär das Resultat analytischer Überlegungen oder intuitiven Verstehens; die Wahrheit oder das Richtige wird vielmehr im Zuge eines Erkenntnisprozesses erst konstruiert. Dabei geht Mill von der Grundannahmen aus, dass rechtes Erkennen unmöglich sei. Der Mensch sei ein defizitäres Wesen, Unfehlbarkeit gehöre nicht zu seinen Attributen.35 Die grundsätzliche fallibility des Menschen anzuerkennen, bedeutet aber zugleich, dass die einmal gefassten Überzeugungen zu einem Gegenstand, ganz gleich wie intensiv, tiefschürfend und wohlbegründet die vorhergehende Diskussion auch gewesen sein mag, niemals als ein für alle Mal richtig betrachtet werden dürfen. Jedes Ende des Erkenntnisprozesses der Menschen muss ein vorläufiges bleiben, jede einmal erlangte Erkenntnis muss sich evolutionär weiterentwickeln, der Erkenntnisprozess selbst darf nie für abgeschlossen erklärt werden, denn, so argumentiert Mill, die gefasste Überzeugung könnte auf Voraussetzungen beruhen, die zum Beispiel nicht auf den in Frage stehenden Gegenstand selbst, sondern auf kulturelle Umstände zurückzuführen sind.36

Das Erkennen ist bei Mill ferner ein Prozess, der methodisch nicht-linear verläuft: nicht-linear, denn erstens findet Erkennen nicht etwa als zielgerichtete Analyse eines Einzelnen, sondern im Diskurs statt; in einem Diskurs, der dem Modell der sokratischen Mäeutik durchaus unähnlich ist. Denn diese ist zielstrebig an dem Hervorholen einer bereits existenten, aber verborgenen Wahrheit orientiert und beruht auf einem mitunter erheblichen Ungleichgewicht unter den Diskutanten. Der Diskurs bei Mill ist hingegen einer über Wahrheitstheorien und fußt auf der Basis einer permanenten Kritik gegenüber sowohl bestehenden als auch bereits modifizierten allgemeinen Überzeugungen. Das konkrete Ziel, auf das der Prozess hinausläuft, steht gerade nicht von Anbeginn fest. Kann eine Theorie im Diskurs nicht widerlegt werden, bedeutet dies keineswegs, sie sei wahr an sich. Denn die Wahrheit schlechthin ist ein Ding, das ein fehlbares Wesen wie der Mensch nicht zu erkennen vermag.37 Kann die Theorie nicht widerlegt werden, bedeutet dies aber, dass sie das derzeit Beste ist, was im Zuge einer vorurteilsfreien Diskussion erreicht werden kann. Kurzum: Wahrheit hat immer nur einen temporären Gültigkeitsanspruch.

Nicht-linear ist der Prozess, den Mill beschreibt, aber auch, weil zweitens die erlangte Wahrheit (Mill spricht ganz vorsichtig von beliefs which we have most warrant for38) genauso wie die Basis, auf der sie ruht, instabil ist. Zwar sollte der Wahrheitsgehalt der diskutierten Theorien allmählich zunehmen, gewiss ist das aber nicht. Wahrheit ist aus der Sicht Mills ein Begriff, dessen Füllung sich permanent im Fluss befindet:39

The beliefs which we have most warrant for, have no safeguard to rest on, but a standing invitation to the whole world to prove them unfounded. If the challenge is not accepted, or is accepted and the attempt fails, we are far enough from certainty still; but we have done the best that the existing state of human reason admits of; we have neglected nothing that could give the truth a chance of reaching us: if the lists are kept open, we may hope that if there be a better truth, it will be found when the human mind is capable of receiving it; and in the meantime we may rely on having attained such approach to truth, as is possible in our own day. This is the amount of certainty attainable by a fallible being, and this the sole way of attaining it.40

Dieses Motiv von Mills Denken wirkt wie eine partielle Vorwegnahme der Falsifikationstheorie Karl Poppers. Sätze wie die folgenden könnten auch von Mill stammen:

Erkenntnis ist Wahrheitssuche – die Suche nach objektiv wahren, erklärenden Theorien.

[…] Sie ist nicht die Suche nach Gewißheit. Irren ist menschlich: Alle menschliche Erkenntnis ist fehlbar und daher ungewiß.41

Nun geht es Popper nicht so sehr darum, vermeintliche Wahrheiten als falsch zu entlarven. Es geht ihm vielmehr darum, wissenschaftliche Hypothesen zu verfeinern, sodass sie die Dinge, auf die sie sich beziehen, besser erklären als ihre Vorgängerinnen.42 Mit Mill teilt er allerdings die Grundannahme der Fehlbarkeit des Menschen, was sich bei ihm in der begrifflichen Differenzierung von Wahrheit und Gewissheit niederschlägt: Es gibt ungewisse Wahrheiten […] aber keine ungewissen Gewißheiten.43 Das tentative Moment der millschen Wendung beliefs which we have most warrant for spiegelt sich in Poppers Begriff Vermutungswissen.44

Auch wenn der Kontext von Poppers und Mills Theorien verschieden ist, ist es trotzdem ergiebig, Mill auch in einem anderen Punkt mit Popper zu lesen, wodurch eine weitere Parallele der beiden Gedankengänge sichtbar wird. Poppers Theorie der drei Welten, die hier nicht im Detail erläutert werden muss,45 impliziert Wechselwirkungen zwischen den materiellen Dingen, den geistigen Dingen und den (geistigen und materiellen) Produkten, die der Mensch auf ihrer Basis hervorbringt. Da diese menschlichen Produkte selbst geistige (z. B. Symphonien) oder materielle Dinge (z. B. ein Kochtopf) sind, die durch ihre Existenz die Grundlagen des menschlichen Denkens, sprich: die geistigen und materiellen Dinge, verändern, schaffen die Menschen, indem sie Produkte hervorbringen, nicht nur ihre Produktionsbedingungen, sondern auch ihre Seinsbedingungen und somit sich selbst um. In Poppers Worten:

Wir sind Urheber des Werkes, des Produkts, und gleichzeitig werden wir von unserem Werk geformt. Das ist eigentlich das Schöpferische am Menschen: daß wir, indem wir schaffen, uns gleichzeitig durch unser Werk selbst umschaffen.46

Der Gedanke, dass sich der Mensch durch sein Schaffen selbst verändert, schimmert auch bei Mill durch, wenn er schreibt: we may hope that if there be a better truth, it will be found when the human mind is capable of receiving it. Denn die notwendige Voraussetzung für die berechtigte Hoffnung, eine bessere Wahrheit, falls vorhanden, künftig aufzeigen zu können, ist die Möglichkeit zur Weiterentwicklung des menschlichen Geistes, von der Mill hier implizit ausgeht.47

Das millsche Prinzip der fließenden, sich evolutionär herausbildenden, tentativen und tendenziellen Wahrheit nicht anzuerkennen, bedeutete das politische, soziale, kulturelle usw. Bedingungsgefüge, das zur Konstruktion von Wahrheiten beiträgt, zu ignorieren. Denn die Basis dessen, was für wahr gehalten wird, wird auch durch kulturelle Epiphänomene bestimmt. Erkennen findet für Mill nicht im Zuge einer direkten Kommunikation der Dinge mit einem a priori existenten Erkenntnisorgan statt, das jeder Mensch besitze. Zunächst muss man sich durch das Nadelöhr der Meinungen zwängen, und die sind in massivster Weise von kulturellen Überzeugungen geprägt:

And the world, to each individual, means the part of it with which he comes in contact; his party, his sect, his church, his class of society […]. He devolves upon his own world the responsibility of being in the right against the dissentient worlds of other people; and it never troubles him that mere accident has decided which of these numerous worlds is the object of his reliance, and that the same causes which make him a Churchman in London, would have made him a Buddhist or a Confucian in Pekin.48

Mills Theorie zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist, darauf werfen solche Passagen ein Schlaglicht, nicht in einem voraussetzungsfreien Raum zu denken. Die soziale Komponente spielt in ihr nicht nur als Erkenntnismethode in Gestalt eines gesellschaftlichen Diskurses, sondern auch im Rahmen einer ideologiekritischen Bedingungsanalyse, die Vorurteile demaskiert, eine entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang ist auch Mills Hinweis auf Menschen zu verstehen, deren absolute Selbstgewissheit in allen Fragen sich nicht etwa aus guten Gründe, sondern aus ihrer sozialen Stellung herleitet: Absolute princes […] usually feel this complete confidence in their own opinions on nearly all subjects.49

Darauf, dass der soziale Kontext, aus dem heraus sich Überzeugungen entwickeln, nicht nur auf die Überzeugungen, sondern auch auf das, was für die ganze Wahrheit gehalten wird, massiven Einfluss ausübt, weist schon Jean-Jacques Rousseau hin. In seinem Émile (1762) kritisiert Rousseau den Umstand, dass religiöse Gewissheiten unhinterfragt bleiben, und verweist darauf, dass dies auch aufgrund unverstandener, allein aus Tradition für richtig gehaltener Vorurteile geschieht.50 Die oben zitierte Passage aus On Liberty thematisiert dasselbe Problem. Auch mit seiner Überzeugung, dass das Erkennen einer Wahrheit eine Frage des allmählichen Fortschritts der Menschheit ist, knüpft Mill an Vorstellungen an, die in der Epoche der Aufklärung von zentraler Bedeutung waren.51 So beschreibt Immanuel Kant den allmählichen Zuwachs an Erkenntnissen durch den Gebrauch der Vernunft als einen generationenübergreifenden Prozess, der eine immer weitere Verfeinerung der menschlichen Einsichten mit sich bringe.52 Dies ist derselbe erkenntnistheoretische Standpunkt, den auch Mill bezieht (wenngleich Kant natürlich davon ausging, dass es einige unbezweifelbare Wahrheiten gäbe).

Grundsätzlich bleibt Mill in Fragen der menschlichen Erkenntnis vor allem dem Zweifel verpflichtet.53 Denn selbst dann, wenn der Denker aus dem Gerüst aus Konventionen und sozialen Vorbedingungen, das ihn in seiner Erkenntnisfähigkeit einengt, durch irgendein ideologiekritisches Verfahren auszubrechen vermöchte, ermöglichte ihm dies doch keinen direkten Zugang zur Wahrheit an sich. Noch unter idealen Umständen bleibt das menschliche Erkenntnisvermögen potentiell fehlerhaft. Die spezifische Rationalität des Menschen äußert sich aus Mills Sicht somit nicht im Erkennen der Wahrheit, sondern darin, dass er seine Denkfehler zu korrigieren vermag.54 Das dem Menschen dafür zur Verfügung stehende Verfahren ist der Prozess des Überdenkens, Hinterfragens und Falsifizierens.

An diesem Punkt ist es hilfreich, sich die Tatsache zu vergegenwärtigen, dass Mills Denken empiristisch geprägt ist.55 Analog zum empirischen Denkansatz Francis Bacons oder dem Erfahrungspositivismus Auguste Comtes geht auch für John Stuart Mill das Erkennen der Wirklichkeit auf das, was der Mensch sieht oder erfährt, zurück. Interessanterweise teilt er diese Überzeugung mit Hobbes, der alle menschlichen Gedanken auf Empfindungen zurückführt.56 Vielleicht sind staatstheoretische Überlegungen, die einen Konnex zum Empirismus haben, gerade deswegen so fruchtbar, weil sie soziale Gebilde als etwas begreifen, das unter anderem durch historische Variablen bedingt ist und darum keine absoluten, in allen Situationen gültigen Aussagen duldet. Hobbes: Keinerlei Erörterung kann mit absolutem Wissen über vergangene oder künftige Fakten enden. […] Und was das Wissen von Folgen betrifft […], so ist es nicht absolut, sondern bedingt.57 Aus Mills Sicht spielen Erfahrungen tatsächlich nicht nur in der Form sinnlicher Wahrnehmungen, sondern auch in der intellektueller Vorurteile eine gewichtige Rolle. Im Zusammenhang mit gesellschaftlich geformten Überzeugungen wurde bereits gezeigt, dass es methodisch falsch ist, diese einfach als gegebene Tatsachen weiterzureichen. Denn alle aus der Erfahrung gewonnen Fakten bedürfen der Einordnung, die im Zuge eines freien Diskurses, also im sozialen Kontext vonstattengeht:

There must be discussion, to show how experience is to be interpreted. Wrong opinions and practices gradually yield to fact and argument: but facts and arguments, to produce any effect on the mind, must be brought before it. Very few facts are able to tell their own story, without comments to bring out their meaning.58

Der kommunikative Zusammenhang, in dem der Erkenntnisprozess steht, ist auch darum unverzichtbar, weil in ihm die Bedeutung des Faktischen erst erzeugt wird. Erkennen findet also, genauso wie die Bildung von Meinungen, als Reaktion, als mentale re-actio auf ein Außen statt. Ohne die eigenständige Tätigkeit, ohne die antwortende Aktion des Zuhörers auf das Gehörte bleibt ihm, dem Zuhörer, die Bedeutung und somit die Erkenntnis der Fakten verwehrt.

Im Grunde impliziert diese Passage, wenn man sie in den Kontext der Formung von Meinungen stellt und ihren Grundgedanken weiterführt, dass das Faktum selbst erst im Diskurs erschaffen wird, dass das Faktum nicht individuelle Erfahrung, sondern Produkt einer interindividuellen Erfahrung ist, insofern es aus der Fülle an rohen, unverarbeiteten Tatsachen ausgewählt und im Diskurs mit anderen zu einer allen gemeinsamen Wahr-Nehmung geformt wird.59 Mill sah das Problem des Faktischen, das sich hinter diesem Gedanken verbirgt, offenbar nicht. Dafür spricht zumindest, dass er im Rahmen seiner Überlegungen zur Schulbildung fordert: the knowledge required for passing an examination […] should, even in the higher classes of examinations, be confined to facts and positive science exclusively.60 Diese Vorkehrung hält er für nötig, um die Schüler vor staatlichem Zwang zur Konformität zu schützen. Dass das Faktum selbst erst als solches qualifiziert werden muss, diskutiert er nicht. Mill dürfte die grundlegende Frage, inwiefern Fakten wirklich a priori gegeben seien, auch deswegen nicht erörtert haben, weil das unmittelbare Erkennen dessen, was als faktisch bezeichnet werden kann, essentieller Bestandteil seiner empiristisch-positivistischen Weltsicht war. Auch wenn er nicht davon ausging, dass der Mensch irgendeinen direkten Zugriff auf die primären Qualitäten der Dinge habe,61 hielt er die menschlichen Sinneswahrnehmungen letztlich doch für ein nützliches, unverzichtbares Werkzeug auf dem Weg der Erkenntnis.62

Schließlich liegt dem millsche Erkenntnismodell noch ein intellektualistisches Prinzip zugrunde, denn: No one can be a great thinker who does not recognize, that as a thinker it is his first duty to follow his intellect to whatever conclusions it may lead.63 Dem Intellekt folgen, heißt aber, sich nicht von jeder Intuition treiben lassen, wobei auch dieser Grundsatz natürlich nicht für die Richtigkeit der Resultate bürgen kann.64 Mill geht in diesem Zusammenhang sogar so weit, dem fehlerhaften Denken unter gewissen Umständen einen größeren Wert beizumessen als dem richtigen, zumal dann, wenn es auf eine eigenständige Denkaktivität zurückgeht. Dies lässt es selbst gegenüber einer true opinion, die sich, alles Hinterfragen ablehnend, auf ihre unumstößliche Geltung beruft, als überlegen erscheinen.65

Anthropologische Grundlagen

Aus erkenntnistheoretischer Sicht zeichnet sich der Mensch für Mill vor allem durch die negative Eigenschaft seiner unhintergehbaren Fehlbarkeit aus. Dies impliziert natürlich eine Aussage über Mills anthropologische Vorstellungen, die letztlich jedoch nicht darauf hinauslaufen, den Menschen primär als Mängelwesen zu definieren. Die oben (im Kap. Erkenntnistheoretische Grundlagen) gezeigten Anknüpfungspunkte seines Denkens zu den Ideen der Aufklärung haben schon eine andere, positiv konnotierte Eigenschaft in den Vordergrund gerückt: die Überzeugung von der menschlichen Fähigkeit zur Vervollkommnung. Die Idee der Perfektibilität der Menschheit hat Mill, neben anderen Aspekten, auch mit seinem Bezugsautor Wilhelm von Humboldt gemein, der sich nicht nur in dieser Hinsicht als Kind der Aufklärung erweist. Humboldt sieht den wahre[n] Zweck der Menschen in der höchste[n] und proportionierlichste[n] Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.66 Diese Formulierung enthält gleich zwei Teilaspekte der Perfektibilität, die auch in Mills Denken Eingang gefunden haben. Zum einen den bereits oben ausführlich besprochenen Gedanken von der Entwicklungsfähigkeit der Menschheit (Humboldts Zweck der Menschen), die sich unter anderem in der millschen Überzeugung wiederfindet, dass der Mensch eine ihm selbst (und somit der ganzen Menschheit) förderliche Tätigkeit finden kann. In der folgenden Passage aus Mills Essay Utilitarianism (1861) geht es vor allem um diesen Aspekt:

Next to selfishness, the principal cause which makes life unsatisfactory, is want of mental cultivation. A cultivated mind […] finds sources of inexhaustible interest in all that surrounds it; in the objects of nature, the achievements of art, the imaginations of poetry, the incidents of history, the ways of mankind past and present, and their prospects in the future.67

Die Idee der Perfektibilität tritt hier nicht nur in der Gestalt einer Optimierung des persönlichen Verhaltens im Interesse der Menschheit auf. Hängt ihr auch ein wenig der Ruch des Elitären an – gegen diesen Vorwurf verwahrt sich Mill entschieden68 –, so wird sie von ihm doch eher als notwendiger Baustein für ein zufriedenes Leben eines jeden Menschen beschrieben denn als ein allein einer Bildungselite angemessenes Verhalten. Der Harmoniegedanke Humboldts (Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen) ist somit der zweite Teilaspekt, der auch bei Mill wieder auftaucht. Der Mangel an geistiger Kultiviertheit (want of mental cultivation) ist aus seiner Sicht nämlich etwas, woran der Mensch, das Individuum leidet; ein Leiden, das durch die Verfolgung von persönlichen Interessen überwunden werden kann.

Nicht nur für die zitierte Passage aus Utilitarianism, sondern ganz besonders für On Liberty gilt, dass Mill den Menschen keineswegs als Abstraktum thematisiert, mit dem sich allerlei Gedankenspiele anstellen lassen. Er begreift ihn vielmehr als konkretes Individuum: Among the works of man […] the first in importance surely is man himself.69 Dieser Satz ist nicht nur als Appell Mills für die Ausbildung des Menschen zu einem intellektuell-kultivierten Wesen zu verstehen, das seine Erkenntnisfähigkeit zum Wohle des Gesamtfortschritts der Menschheit immer weiter verfeinert. Mill rechtfertigt den im Kapitel Erkenntnistheoretische Grundlagen beschriebenen rationalen Erkenntnisprozess, demzufolge sich jeder Mensch geistig betätigen und nicht einfach vorgeformte Meinungen akzeptieren sollte, auch dadurch, dass er unverzichtbare Grundlage für ein gutes Sein überhaupt sei. Sowohl Meinungsfreiheit (freedom of opinion) als auch freie Meinungsäußerung (freedom of expression) seien notwendig für the mental well-being of mankind (on which all their other well-being depends).70 Dass Mill das Wohl des Menschen höher schätzt als abstrakte Prinzipien, zeigt sich besonders schön in seiner Bewertung eines humboldtschen Grundsatzes. Humboldts Behauptung, die Ehe sei auch nur ein Vertrag, der wie jeder andere grundsätzlich kündbar sei, stimmt Mill nur unter Vorbehalt zu. Denn für ihn können sich aus diesem Vertrag Pflichten gegenüber einer dritten Partei, sprich Kindern, ergeben; und deren Wohl dürfe schon aus moralischen Erwägungen nicht außer Acht gelassen werden.71

Für die Möglichkeit, das geistige Wohl zu erlangen, ist es ferner unverzichtbar, der Individualität des Menschen genügend Platz zur freien Entfaltung einzuräumen:

If it were felt that the free development of individuality is one of the leading essentials of well-being; that it is not only a co-ordinate element with all that is designated by the terms civilization, instruction, education, culture, but is itself a necessary part and condition of all those things; there would be no danger that liberty should be undervalued, and the adjustment of the boundaries between it and social control would present no extraordinary difficulty.72

In dieser Passage tritt der Begriff Freiheit in der für Mill charakteristischen Doppeldeutigkeit auf, auf die bereits in der Kapiteleinleitung hingewiesen wurde. Einerseits bildet sie die Basis, auf der sich das Gebäude der menschlichen Kultur erhebt, andererseits ist sie selbst Produkt dieser Kultur und fördert das geistige Wohl des Individuums. Die Freiheit hat mithin einen Nutzen, der über den engen Raum des Individuums hinausweist, sie kommt der gesamten Gesellschaft, ja der gesamten Menschheit zugute.

In der älteren Forschung wurde der inhaltliche Zusammenhang zwischen den zeitgleich entstandenen Essays On Liberty und Utilitarianism oft verneint, ja ihre Kernaussagen wurden gar als einander widersprechend wahrgenommen.73 Betrachtet man das Menschenbild Mills genauer wird jedoch deutlich, dass es entscheidende Parallelen zwischen den beiden Texten gibt. Ebenso wie Freiheit mehrdimensional zu denken ist (als Basis und Produkt der menschlichen Kultur), wäre es falsch, Mills Utilitarismus auf kalte Nützlichkeitserwägungen zu reduzieren, die allein auf das Wohl der Gesamtgesellschaft zielen. Das Greatest Happiness Principle,74 das im Mittelpunkt des millschen Utilitarismus steht, ist sowohl auf das Individuum als auch auf die Gesellschaft bezogen, von der das Individuum ein irreduzibler Teil ist.

Als Maßstab des größten Glücks fungiert in Utilitarianism das Vergnügen (pleasure),75 womit Mill die Ideen des hedonistischen Utilitarismus aufgreift.76 Vergnügen wiederum ist, genau wie das Prinzip des größten Glücks, sowohl ein subjektiver als auch ein objektiver Standard.77 Denn das Vergnügen, das die meisten Individuen im Vergleich mit einem anderen Vergnügen (unter komplettem Verzicht auf moralische Erwägungen) vorziehen, sei als das höhere Vergnügen anzuerkennen.78 Subjektiv ist dieser Standard, weil er auf sehr individuelle Einschätzungen zurückgeht, die Mill zunächst nicht weiter spezifiziert; objektiv, weil er letztlich erst durch ein Mehrheitsvotum zu einem belastbaren Ergebnis führt. Sieht Mill in seinen Überlegungen auch von konkreten Kriterien ab, so geht er doch davon aus, dass im Zweifel der Glücksgewinn durch higher faculties79 (hier schimmern wieder Mills elitäre Standards durch) als gewichtiger zu beurteilen sei: It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied.80 Werden die utilitaristischen Standards auch durch eine individuelle Meinungsäußerung gewonnen, so zählt letztlich doch die größte Menge an Glück: that [utilitarian] standard is not the agent’s own greatest happiness, but the greatest amount of happiness altogether.81

Mills Theorie des Utilitarismus zeigt sich hier als eine konsistente Fortführung der anthropologischen Vorstellungen, die er in On Liberty formuliert. Denn treibendes Moment seiner Überlegungen ist hier wie dort jenes well-being, das nicht nur für die freie Entfaltung der Individuen, sondern auch für die Gemeinschaft aller Individuen von Nutzen sein soll. Tatsächlich besteht im millschen Utilitarismus eine unleugbare Spannung zwischen den individuellen Wertvorstellungen und dem größten Nutzen für die größte Zahl.82 Diese Spannung darf meines Erachtens jedoch nicht als Zeichen für eine Abkehr vom Grundprinzip des Individualismus interpretiert werden. Indem Mill seine Lesart des Utilitarismus so füllt, dass es am Ende nicht so sehr um das Glück des Einzelnen, sondern vielmehr um das der Menge geht, scheint er nur jenes Harm Principle aufzugreifen, das schon in On Liberty als Maßstab zur Beschränkung der individuellen Freiheit herangezogen wurde: Die für das Wohl des Individuums nötige Freiheit umfasst nicht die Freiheit, das Wohl anderer Individuen zu unterminieren (s. hierzu Kap. Die Freiheit). Das Glück des Einzelnen ist der Maßstab, das der Menge das Ziel. Daran sollte das konkrete Handeln ausgerichtet werden:

[…] it is a misapprehension of the utilitarian mode of thought, to conceive it as implying that people should fix their minds upon so wide a generality as the world, or society at large. The great majority of good actions are intended, not for the benefit of the world, but for that of individuals […].83

Der millsche Utilitarismus kann somit durchaus als Lehre, die am Wohl des Einzelnen orientiert ist, gelesen werden. Die Orientierung an der Zweckmäßigkeit (Expediency) des Handelns reicht ihm als Motiv nicht aus,84 was natürlich nicht bedeutet, dass solche Erwägungen von Mill gänzlich vernachlässigt würden.

Die große Bedeutung der Möglichkeit, sich eine eigene Individualität herauszubilden, ist schon mehrfach betont worden. Mitunter klingt dies bei Mill so, als besitze die menschliche Individualität einen Wert an sich:

[…] it is the privilege and proper condition of a human being, arrived at the maturity of his faculties, to use and interpret experience in his own way. It is for him to find out what part of recorded experience is properly applicable to his own circumstances and character.85

Der Mensch wird nicht fertig geboren, er bedarf der Möglichkeit zur eigenständigen Entwicklung seines Charakters. Darum darf die Unterdrückung jedweder Meinungsäußerung auch nicht allein als Unterdrückung der Freiheit eines Einzelnen wahrgenommen werden; sie kommt der Unterdrückung der Entwicklungsmöglichkeiten auch der Nichtbetroffenen gleich: the peculiar evil of silencing the expression of an opinion is, that it is robbing the human race,86 oder, wie es in seinem Essay The Subjection of Women (1865) heißt:

[…] it is both an injustice to the individuals, and a detriment to society, to place barriers in the way of their using their faculties for their own benefit and for that of others.87

Insofern ist die Behinderung einer individuellen Entwicklung auch als unzweckmäßig zu charakterisieren. Denn Mill hält es, sowohl in Bezug auf die Entwicklung des Individuums als auch auf die der Gesellschaft, für absolut notwendig, Positionen zu diskutieren, die bereits als untragbar qualifiziert wurden.88 Die Diskussion der Meinung eines Häretikers aus moralischen Erwägungen zu unterdrücken, schade nicht so sehr dem Häretiker als vielmehr demjenigen, der sich aus Angst vor einer ähnlichen Behandlung nicht traut, selbständig zu denken.89

Die Freiheit

In The Subjection of Women charakterisiert Mill Freiheit als eines der basalen Bedürfnisse des Menschen: After the primary necessities of food and raiment, freedom is the first and strongest want of human nature.90 Welchen Raum man diesem menschlichen Freiheitsdrang in einer modernen Gesellschaft zugestehen kann, ist die Frage, die sich im Angesicht dieser Feststellung unmittelbar aufdrängt. Die beiden jeweils nur einen Satz umfassenden Bestimmungen des individuellen Freiheitsraums, die Mill in On Liberty gibt, sind allerdings in hohem Maße interpretationsbedürftig und darüber hinaus in vielerlei Hinsicht mit seinen anderen Vorstellungen, von denen bereits im Kapitel Die Grundlagen die Rede war, verschränkt. Gleichwohl lässt sich von ihnen ausgehend entwickeln, für wie umfassend oder begrenzt Mill den Freiheitsraum des Individuums in der Gesellschaft hält. Tatsächlich erhebt er den Anspruch, dass one very simple principle als Richtschnur für den Umgang der Gesellschaft mit den in ihr lebenden Individuen dienen könne, seine bereits oben zitierte Freiheitsdoktrin:91

That principle is, that the sole end for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number, is self-protection.92

An dem Grundprinzip Mills fällt zunächst auf, dass in ihm nicht etwa von der Freiheit schlechthin gesprochen wird, sondern nur von Handlungsfreiheit (liberty of action). Dies scheint bereits eine substantielle Einschränkung zu sein, könnte man doch daraus folgern, dass Gedankenfreiheit, freie Meinungsäußerung usw. von Mills Freiheitsbegriff ausgenommen wären.93 Später bestimmt Mill allerdings genauer, was er jenseits der genannten Handlungsfreiheit noch von seinem Prinzip erfasst sehen will. In diesem Zusammenhang nennt er drei Bereiche, an denen die Gesellschaft nur ein mittelbares Interesse (indirect interest) habe,94 ein Interesse, das ebenfalls von seiner Definition von Freiheit erfasst werde, zumal der einzige Zweck (the sole end) des Eingreifens in den Freiheitsraum eines anderen, also self-protection, in diesen Fällen nicht zur Anwendung kommt.

Auf das mittelbare Interesse der Gesellschaft muss er deswegen abheben, weil es allenfalls in der Theorie möglich ist, Individuum und Gesellschaft fein säuberlich voneinander zu trennen. Da das Individuum wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft ist und es in sie nicht nur körperliche, sondern auch mentale Dispositionen einbringt, zieht letztlich jede noch so geringe Eigenart eines Einzelnen Folgen für die Gesellschaft als Ganzes nach sich. Die Logik dieses Gedankens lässt sich anhand eines einfachen Gedankenspiels nachvollziehen.

Gegeben sei eine Gesellschaft, in der es kein einziges Mitglied mit rassistischen Vorurteilen gibt. In dieser Gesellschaft entwickelt nun eines ihrer Mitglieder – ganz gleich aus welchen Gründen – die Vorstellung, schwarzhäutige Menschen seien grundsätzlich Lügner und Betrüger. Mag diese Meinung auch keinerlei greifbare Auswirkungen auf die Gesellschaft mit sich bringen, weil das besagte Mitglied sie nur äußert ohne daraus irgendwelche Handlungen gegenüber Schwarzen abzuleiten – rein logisch hat er durch die Entwicklung dieses Gedankens die Gesellschaft verändert, die von nun an rassistische Vorurteile in sich birgt. Für diese Bewertung ist es irrelevant, dass die Frequenz dieser Vorurteile gegen Null tendiert. An dem Vorurteil, das sie nunmehr in sich trägt, hat die Gesellschaft, um wieder auf Mill zurückzukommen, zunächst nur ein mittelbares Interesse. Zu einem direkten würde es dann, wenn das vorurteilsbeladene Mitglied zum Beispiel damit beginnen würde, Schwarze zu beschimpfen oder gar tätlich anzugehen (oder andere zu derartigen Handlungen anzustacheln). Jetzt würde eine Person in den Freiheitsraum einer anderen aktiv eingreifen, sodass das Interesse der Gesellschaft plötzlich ein direktes wäre, wird doch auf diese Weise die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder tangiert. Tatsächlich kann für Mill unter gewissen Umständen auch eine Beschimpfung nicht nur von individuellem, sondern auch von gesellschaftlichem Interesse sein, wenn sie denn geeignet ist, zu Handlungen anzustacheln, die in den Freiheitsraum eines Dritten eingreifen:

[…] even opinions lose their immunity, when the circumstances in which they are expressed are such as to constitute their expression a positive instigation to some mischievous act. An opinion that corn-dealers are starvers of the poor, or that private property is robbery, ought to be unmolested when simply circulated through the press, but may justly incur punishment when delivered orally to an excited mob assembled before the house of a corn-dealer […]. The liberty of the individual must be thus far limited; he must not make himself a nuisance to other people.95

Das Beispiel Mills zeigt, dass er die zunächst grenzenlos scheinende Liberalität seines Grundprinzips in seinem Text ganz allmählich einschränkt.96 Letztlich bewegt er sich aber immer noch in dem ursprünglich von ihm gesteckten Rahmen, geht es doch auch hier um die Handlungsfreiheit des Betroffenen. Der Getreidehändler aus Mills Beispiel wäre unter den gegebenen Umständen nämlich in seiner Handlungsfreiheit insofern eingeschränkt, als es eine Gefahr für Leib und Leben nach sich zöge, wenn er seinem Beruf noch weiter nachginge.

Auf die drei Bereiche, die Mill jenseits der bereits in seiner Freiheitsdoktrin genannten Handlungsfreiheit nennt und dem grundsätzlich unantastbaren Freiheitsraum des Individuums zuschlägt, muss etwas genauer eingegangen werden:

1) Die Freiheit des Gewissens, der Gedanken, der Gefühle, der Meinungen, kurzum the inward domain of consciousness.97 Zu diesem Bereich zählt Mill bemerkenswerterweise nicht nur die Freiheit, sich eine eigene Meinung zu bilden, sondern auch die Freiheit, diese zu veröffentlichen. Dabei argumentiert er nicht mehr allein damit, dass auch im Falle einer Meinungsbekundung nur ein mittelbares Interesse der Gesellschaft bestünde. Er schreibt ihr vielmehr as much importance as the liberty of thought itself zu.98 Worin genau diese Bedeutung (importance) besteht, ist interpretationsbedürftig. Wahrscheinlich hat Mill an dieser Stelle bereits seine Gedanken zur Erkenntnisfähigkeit der Menschen im Hinterkopf (s. Kap. Erkenntnistheoretische Grundlagen). Da der Mensch grundsätzlich als fehlbar angesehen werden müsse, bedürften alle einmal gefassten Überzeugungen einer fortdauernden Überprüfung. Diese findet idealerweise im Zuge eines Diskurses statt, in dem jeder seine Gedanken, also seine Meinungen und ganz subjektiven Sichtweisen zur Diskussion stellt. Die Bedeutung, die Mill dem gemeinsamen Auftreten von freier Meinungsbildung und -äußerung zuspricht, könnten demnach von seinen erkenntnistheoretischen Vorstellungen hergeleitet werden. Zugleich dürften auch die Nützlichkeitserwägungen, wie er sie in Utilitarianism postuliert, eine Rolle spielen (s. hierzu Kap. Anthropologische Grundlagen). Wenn Mill konstatiert, dass sich das Individuum im Handlungsraum der eigenen Gedanken frei bewegen darf, zielt dies auf nichts anderes als auf die Ermöglichung eines eigenen, subjektiv-fundierten Wertbildungsprozesses. Dieser ist nicht zuletzt deswegen vonnöten, weil er eine Einschätzung dazu liefert, was als nützlich anzusehen ist. Denn Nützlichkeit orientiert sich bei Mill daran, was das Wohlbefinden steigert. Das Wohlbefinden aber wird von Mill als ein primär subjektiver Standard definiert, der in einen gesellschaftlichen Diskurs eingeht und erst dort zu einer (temporären) Wahrheit geformt wird. Darin liegt die Bedeutung, die Mill der Freiheit des Denkens und seiner öffentlichen Äußerung beimisst: Beide sind unabdingbarer Bestandteil der Selbstfindung des Individuums und der Verhandlung einmal gefasster Überzeugungen mit der übrigen Gesellschaft.

2) Die Freiheit, sich einen eigenen Geschmack auszubilden und sich seine Beschäftigungen und Ziele selbst zu wählen (liberty of tastes and pursuits).99 Diese Definition führt nicht weit weg von der der Gedankenfreiheit, hat Geschmacksbildung doch viel mit Meinungsbildung zu tun. Für Mill liegt die Spezifik dieses Bereichs offenbar darin, dass sich die Folgen dieses Freiheitsaspekts deutlicher in der Öffentlichkeit zeigen. So könnte die Freiheit des Geschmacks sich beispielsweise in der Vorliebe für extravagante Kleidung ausdrücken. Dass es sich bei Kleidungsvorlieben keineswegs um Petitessen handelt, leuchtet sofort ein, wenn man den Blick auf Staaten oder Subkulturen richtet, in denen religiös begründete Kleidungsvorschriften bestehen, in denen diese Freiheit mithin mehr oder minder stark eingeschränkt ist. Von den Vorschriften abweichende Kleidung kann hier leicht als religionspolitische Aussage verstanden werden und Sanktionen des Umfelds provozieren. Die Streitigkeiten in der Türkei, ob Studentinnen innerhalb der Universität ein Kopftuch tragen dürften oder nicht, zeigen deutlich, dass solche Regelungen geeignet sind, das Fundament individueller Überzeugungen zu tangieren.100 Das heute nicht mehr bestehende Kopftuchverbot für Studentinnen zog nämlich für all jene, die es mit ihren religiösen Vorstellungen nicht vereinbaren konnten, in der Öffentlichkeit keines zu tragen, faktisch ein Studienverbot nach sich – eine substantielle Beschränkung des individuellen Freiheitsraums. Da ein Kopftuch nicht dazu geeignet ist, die Handlungsfreiheit eines Gegenüber einzuengen, besteht jedoch aus der Sicht von Mills Freiheitsdoktrin keinerlei Notwendigkeit für eine solche Beschränkung. Selbst dann, wenn mit dem Tragen eines Kopftuchs eine eindeutige politische Positionierung zum Ausdruck gebracht würde (was nicht notwendigerweise der Fall ist), dürfte sein Tragen nicht beschränkt werden. In diesem Fall wäre es als Meinungsäußerung und somit Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs einzustufen, der letztlich sogar, ganz gleich für wie abstrus man den Standpunkt hält (s. dazu unten), eine wichtige Funktion für die gesamte Gesellschaft hat. Das Interesse der Gesellschaft an der Kleidung seiner Individuen dürfte somit allenfalls ein mittelbares sein. Die autoritären Versuche, das Tragen eines Kopftuchs im deutschen Schuldienst zu verbieten, sind darum auch nicht von ungefähr vom Bundesverfassungsgericht verworfen worden. Interessanterweise wird in diesem Zusammenhang damit argumentiert, dass die abstrakte Gefahr einer Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität für die Begründung eines Verbots nicht ausreichend sei. Es müsse schon eine hinreichend konkrete Gefahr sichtbar werden. Ferner wird festgestellt, dass sich die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben erstrecke, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten.101 Jenseits dieser juristischen Zurückweisung verrät schon der Geltungsbereich der ursprünglichen Verhüllungsverbotsgesetze, dass sie zum einen nicht ausreichend durchdacht wurden und zum anderen eine zu spezifische Ausrichtung auf eine bestimmte religiöse Gruppe hatten, sprich: nicht abstrakt genug angelegt waren. Denn auf Frauen der richtigen, der christlichen Religion (Nonnen) erstreckte es sich nicht. Sie durften ihre religiös begründete Selbstverhüllung ohne Beschränkung weiterbetreiben.

3) Die Vereinigungsfreiheit (freedom to unite).102 Erneut ist nicht ganz klar, was Mill alles hierunter fasst. Er scheint tatsächlich jede denkbare Verbindung zu meinen, sowohl eheliche als auch gewerkschaftliche. Diese Freiheit dürfte ferner politischen Parteien und Vereinen zustehen. Mill scheint also erneut die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese vor einer breiten Öffentlichkeit diskutieren zu lassen, im Hinterkopf zu haben. Tatsächlich muss man aus heutiger Sicht die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten zu verbinden, als von essentieller Bedeutung für ein freies Gemeinwesen bezeichnen. Darum steht der entsprechende Artikel im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auch an prominenter Stelle.103

Mills Freiheitsdoktrin steht in einem Spannungsverhältnis zu all dem, was er der Handlungsfreiheit subsumiert. Die Freiheitsdoktrin ist nämlich im Gegensatz zu ihrer Spezifizierung negativ qualifiziert. Das heißt, Freiheit wird in jener zunächst als Freiheit vor den Eingriffen anderer und erst später als Freiheit zur Ausübung bestimmter Rechte bestimmt. Nähme man nur die Freiheitsdoktrin in den Blick, müsste man die millsche Freiheit als einen Mangelbegriff definieren: Freiheit wäre das Fehlen der Einmischung anderer in den eigenen Wirkungskreis.104 Das heißt aber auch, dass Freiheit von Mill zunächst als ein unbegrenzter, weil nicht genau abgesteckter Raum begriffen wird, der sich durch seine negative Qualifizierung, sprich: durch das Fehlen positiver Freiheiten, auszeichnet. In diesem unbegrenzten Raum steht buchstäblich alles im freien Ermessen des Individuums – solange sich andere Individuen nicht aus Selbstschutzgründen gezwungen sehen, der Freiheit eines anderen Grenzen zu setzen. Auch wenn Mill im Folgenden seinen Freiheitsbegriff genauer bestimmt und dadurch nicht unwesentlich einschränkt – er wird immer wieder auf das Schadensprinzip rekurrieren, hat also bei all seinen Detailüberlegungen diesen unbestimmt großen Freiheitsbegriff im Hinterkopf.105

Die Gefahr, seinen Freiheitsbegriff positiv zu fassen, ihn also von Anfang an nicht etwa abstrakt, sondern durch konkrete Rechte des Individuums zu umreißen, bestünde darin, dass der Begriff sich auf all die Dinge, die nicht explizit genannt werden, nicht erstreckte. Diese Form, Freiheit zu definieren, würde im Übrigen Mills erkenntnistheoretischen Vorstellungen fundamental widersprechen. Sie würde voraussetzen, dass der Mensch a priori wisse, was gut, was richtig, was auch in Zukunft wünschenswert sei. Wie im Kapitel Erkenntnistheoretische Grundlagen bereits gezeigt, ist Wahrheit aus Mills Sicht aber gerade nichts Gegebenes, sondern Verhandlungssache. Wenn der Raum dessen, was verhandelt werden kann, schon zuvor durch eine positive Freiheitsdefinition eingeschränkt wird, würde das die Menschen der Möglichkeit berauben, sich einen eigenen Freiheitsbegriff zu bilden, der den sozialen, politischen und kulturellen Umständen, in denen sie leben, entspricht. Freiheit als etwas zu definieren, das zunächst inhaltlich leer ist, das zunächst unbegrenzt ist, trägt mithin auch den millschen Vorstellungen Rechnung, dass der Mensch sowohl ein soziales als auch ein entwicklungsfähiges Wesen sei. Die genuin aufklärerische Idee von der Perfektibilität des Menschen, die sich Mill zu eigen machte, spielte schon für die Formulierung seines Prinzips eine entscheidende Rolle.

Aus dem bisher Gesagten lässt sich eine zirkuläre, in sich geschlossene Definition von Freiheit ableiten: Der Raum der Freiheit ist der Raum, der der Freiheit gelassen wird. Ohne Kontext müsste man eine derartige Aussage als nichtssagend bezeichnen. Verschränkt man sie allerdings mit den erkenntnistheoretischen und anthropologischen Vorstellungen Mills, so resultiert: Der Raum der Freiheit ist der Raum, den die Gemeinschaft als Ergebnis eines unbeschränkten Diskurses dem Individuum lässt. All das, was Mill im Anschluss an die Formulierung seiner Freiheitsdoktrin an Einschränkungen der Freiheit des Individuums anführt, ist meines Erachtens bereits als Teil des gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen. Es handelt sich um seine Hypothesen, die, das wäre folgerichtig, durchaus hinterfragt und zukünftig modifiziert werden können.

Direkt im Anschluss an die erste Formulierung der Freiheitsdoktrin erweitert Mill seine Definition allerdings um einen weiteren, in den bisherigen Überlegungen noch nicht beachteten Grundsatz, der auf den ersten Blick wie eine schlichte Neuformulierung jenes bereits zitierten ersten Grundsatzes wirkt. Die vollständige Definition des sehr schlichten Prinzips Mills zur Bestimmung des Freiheitsraums eines jeden Individuums muss demnach erweitert werden. Vollständig lautet sie:

That principle is, that the sole end for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number, is self-protection. That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.106

Auch in der zweiten Definition wird allein der Schaden, der für einen Dritten entstehen könnte, als zureichender Grund genannt, die Freiheit eines Individuums einzuschränken. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine reine Reformulierung des ersten Satzes. Denn dort wird die Freiheit aus der Sicht der Menschheit (mankind) und hier aus der der Gemeinschaft (community) bestimmt. Die Gemeinschaft wird von Mill – auch das muss als eine weitere Begrenzung des Begriffsumfangs gelesen werden – noch genauer als civilized bestimmt. Einige fundamentale Einschränkungen, die sich aus der zweiten Definition ergeben, stecken in komprimierter Form genau in diesem Begriff der zivilisierten Gemeinschaft. An einer Reihe von Punkten, die er im Folgenden nennt, wird deutlich, was Mill hierunter exakt versteht.

Das Freiheitsprinzip, so Mill, könne nur für diejenigen Menschen gelten, deren Fähigkeiten die nötige Reife (the maturity of their faculties) erlangt hätten. Dies schließt zum Beispiel Kinder aus, die noch der Führung eines anderen bedürfen. Analog dazu argumentiert Mill, dass sein Freiheitsprinzip auch dort keine Geltung habe, wo Gesellschaftszustände (states of society) herrschten, in denen das Volk noch nicht die nötige Reife erlangt habe. Aus diesem Grund, das ist bereits der dritte Schritt dieser Argumentation, sei eine despotische Regierung über ein Volk von Barbaren durchaus angemessen, wenn gegeben ist, dass ihre mangelhaften Fähigkeiten durch diese unfreie Führung weiterentwickelt werden. Die Weiterentwicklung der Barbaren hält er schließlich für eine unabdingbare Voraussetzung für eine zukünftige Anwendung der Freiheitsdoktrin auch auf diese Menschen. Denn dort, wo ein Volk nicht in der Lage ist, seine Freiheit in einem offenen gesellschaftlichen Diskurs zu nutzen, um sich eine eigene Meinung zu bilden, könne ihm die Freiheit, wie sie in Mills Freiheitsdoktrin niedergelegt ist, nicht gewährt werden.107

Oben (im Kap. Anthropologische Grundlagen) wurde bereits darauf hingewiesen, dass Mills Glücksbegriff leicht elitäre Züge trägt. In der zweiten, engeren Definition seiner Freiheitsdoktrin geht diese Vorstellung eine merkwürdige Verbindung mit seinem Fortschrittsglauben ein. Gesellschaftlicher Fortschritt darf nicht schon dann erwartet werden, wenn nur dem von ihm formulierten Paradigma gefolgt werde. Es bedarf vielmehr einer wohlausgebildeten Basis, nämlich der von ihm sogenannten zivilisierten Gemeinschaft, ehe überhaupt darüber nachgedacht werden kann, ihren Mitgliedern derart weitreichende Freiheitsrechte zu gewähren, wie sie sich in Mills Postulat finden. Einige entscheidende Entwicklungen müssen bereits vollzogen, einige entscheidende Voraussetzungen gegeben sein. Sind die Individuen nicht in der Lage, sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, um mit Kant zu sprechen,108 dürfe ihr Freiheitsraum durchaus beschränkt werden. So zumindest Mill. Diese Argumentation für eine Beibehaltung despotischer Herrschaftsstrukturen kennen wir schon von Wilhelm von Humboldt (s. die Einleitung zu Kap. Die Grundlagen), bei dem Mill auch in diesem Fall anknüpft. Immer dann, wenn Mill im Folgenden liberalere Positionen vertritt, setzt er stillschweigend voraus, dass jene Grundbedingung, also die nötige Reife einer Gemeinschaft, die sich in der Fähigkeit niederschlägt, sich selbst in einem freien Diskurs weiterzuentwickeln, bereits gegeben ist. Diese Grundbedingung sei in all nations with whom we need here concern ourselves bereits voll ausgebildet.109 Seine Gedanken, Forderungen, Definitionen werden mithin an sehr spezifische kulturelle Voraussetzungen, sehr spezifische Erfahrungsräume geknüpft, die wieder einmal die elitären und an einer europäisch-westlichen Kultur orientierten Gedankengänge Mills dekuvrieren.110

Ein weiteres Moment der Einschränkung der zunächst als unbegrenzt definierten Individualfreiheit verbirgt sich in Mills zweiten Definition in der Formulierung to prevent harm to others. Prevent ist mehrdeutig, kann es doch sowohl verhindern als auch vorbeugen bedeuten. Übersetzte man es mit verhindern, kann man die Formulierung noch so lesen, dass auch sie mit der Vorstellung von jenem weiten Raum, den Mill der individuellen Freiheit zunächst zugemessen hat, im Einklang steht. Eine Übersetzung mit vorbeugen ermöglichte allerdings das, was wir im Deutschen als präventives Handeln bezeichnen würden: das Verhindern eines Schadens durch die Vermeidung von Situation, in denen es zu einem Schaden kommen kann. Die Formulierung Mills ermöglicht mithin ein vorausschauendes Eingreifen nach dem Muster: Rauchen wird allen Bürgern verboten, weil es zu Gesundheitsschäden kommen könnte; eine Helmpflicht wird allen Fahrradfahrern auferlegt, weil es zu einem Unfall kommen könnte; die elektronische Kommunikation aller Staatsbürger muss überwacht werden, weil sie Verbrechen planen oder verüben könnten. Die ungenaue Formulierung Mills eröffnet einem vorsorgenden, behütenden, im Zweifel autoritären (Überwachungs-)Staat mithin Tor und Tür. Problematisch sind solche Eingriffe in die Freiheit des Individuums deswegen, weil das, was als Schaden begriffen wird, sehr weit ausgelegt werden kann. Am Ende solcher Vorsorgemaßnahmen könnte nämlich im schlimmsten Fall die Beschränkung des freien Diskurses stehen, um den Bürger nicht nur vor körperlichen, sondern auch vor mentalen Schäden zu bewahren. Auf dem Spiel stünde letztlich die Gedankenfreiheit, die – hier kann man Mill meines Erachtens voll zustimmen – ihren vollen Wert erst im freien Austausch mit anderen entfaltet.

Dass auch moderne Demokratien durchaus dieser Gefahr unterliegen, zeigt das keineswegs allein in Deutschland durchgesetzte Verbot der Holocaustleugnung.111 Hinter der Aufrechterhaltung dieses Verbots scheint mir nicht nur staatspolitische Räson, sondern auch der Wunsch zu stehen, Schaden von der Gemeinschaft abzuwenden, to prevent harm to others also im Sinne von: möglichen Schaden gegenüber anderen vorbeugen. Dass genau diese, aus historischen Gründen immerhin nachvollziehbare Beschränkung der Meinungsfreiheit irgendwann als Präzedenzfall für weitergehende Beschränkungen herangezogen werden könnte, wird dabei geflissentlich übersehen. Zu bedenken ist, dass die gesetzlichen Vorschriften, durch die Holocaustleugnung geahndet wird, so allgemein gehalten sind, dass schon jetzt bei anderen Tatbeständen greifen. Und dies werden sie in immer größerem Maße tun, je mehr das spezifische Geschehen der massenhaften Ermordung von Juden in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit gerät und die (faktisch schon heute nur noch behauptete, aber schon längst widerlegte) Singularität des Ereignisses angesichts anderer Genozide nicht mehr im Mindesten glaubwürdig erscheint. Tatsächlich dürfte es selbst in solchen Fällen, in denen die Grausamkeit des Geschehens schon auf den ersten Blick unbestreitbar ist, einen bei Weitem größeren Wert haben, deviante Meinungen zuzulassen, ganz gleich wie defizitär die Argumentation, der sie folgen, auch sei. Dies bewahrt die (durch eine wissenschaftliche Faktenanalyse gestützte) Mehrheitssicht auf den Gegenstand davor, den Charakter eines Dogmas anzunehmen. Denn diese Entwicklung wäre überaus gefährlich. Von der Dogmatisierung zur Instrumentalisierung ist es nur ein kurzer Schritt. So zeigt zum Beispiel die chinesische Lesart des Nanking-Massakers von 1937, bei dem japanische Truppen mehrere zehntausend Zivilisten und Kriegsgefangene ermordeten, wie ein Kriegsverbrechen für die Herausbildung eines Opfernationalismus instrumentalisiert werden kann. Die intensive Diskussion und das mehrfach geäußerte Bedauern auf japanischer Seite wird auf der chinesischen überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen, wohl auch, weil es nicht denselben Nutzen verspricht wie die eigene Lesart. Die von Anfang an staatlicherseits eingeschränkte Meinungsbildung hat in diesem konkreten Fall einer rationalen Aufarbeitung des Geschehens massiv geschadet und führte letztlich dazu, dass ein Festhalten an der Vorstellung des unverbesserlichen japanischen Teufels sich zu einem Dogma verfestigte, das letztlich auf das gesamte Feld der politischen Beziehungen zwischen China und Japan ausstrahlte – und auch heute noch in ihm weiterwirkt.112

Auch wenn seine zwei Kurzdefinitionen unter diesem Aspekt mehrdeutig sind – aus Mills Sicht sind Beschränkungen der freien Meinungsbildung, wie die eben genannte, vollkommen unangebracht. Dabei spielt es für ihn nicht die geringste Rolle, wie absurd, unbegründet, fahrlässig und geistlos die Meinung zum Beispiel eines Holocaustleugners auch sei.

If the arguments of the present chapter [viz. the second in On Liberty] are of any validity, there ought to exist the fullest liberty of professing and discussing, as a matter of ethical conviction, any doctrine, however immoral it may be considered.113

Erinnern wir uns daran, dass Mill für seine Freiheitsdoktrin nur dann eine Einschränkung duldet, wenn die von einem Individuum genutzte liberty of action ein anderes in Gefahr bringen würde. Dass er von der liberty of expression erst später spricht, darf nicht als Verkürzung seines Gedankengangs missverstanden werden, es hat System, es geht auf ein Grundprinzip des millschen Programms zurück. Denn die Gedankenfreiheit des Einzelnen ist überhaupt nicht in der Lage, in den Freiheitsraum eines anderen einzugreifen. Erst in dem Moment, in dem sich Denken zu Handeln verdichtet, kann es zu Übergriffen kommen, die wirklich qualifiziert sind, den Freiheitsraum eines Individuums einzuengen. Als falsch erkanntes Denken allein (wie z. B. das eines Holocaustleugners) ist es nicht wert beschränkt zu werden, ja seine Beschränkung wäre sogar gefährlich. Denn eine sich selbst bildende Erkenntnis erlangt der Mensch, wie so oft betont, erst im Zuge eines offenen, unbeschränkten, vorurteilsfreien Diskurses. Um den entscheidenden Satz Mills noch einmal zu zitieren: No one can be a great thinker who does not recognize, that as a thinker it is his first duty to follow his intellect to whatever conclusions it may lead.114 Das Unterbinden oder Einschränken des freien Denkens, das Bauen auf Traditionen und Konventionen oder das unhinterfragte Akzeptieren des Common Sense beraubt das freie Denken all der Qualitäten, die es aus Mills Sicht so wertvoll machen.

In genau diesem Zusammenhang muss das in On Liberty wiederholt kritisierte starre Festhalten an religiösen Überzeugungen gestellt werden,115 zumal Mill Religion als the most powerful of the elements which have entered into the formation of moral feeling betrachtet.116 Auch seine in The Subjection of Women zum Ausdruck gebrachte Opposition gegenüber der traditionell inferioren Stellung der Frau in der englischen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts richtet sich gegen eine bestehende Gewohnheit (established custom). Selbst wenn es einst gute Gründe für diese Haltung gegeben habe, die historischen Umstände könnten sich geändert haben, sodass ein weiteres Festhalten an ihnen nicht mehr zu rechtfertigen sein könnte (wofür Mill schließlich plädiert).117

Die Frage, weswegen Meinungen generell nicht unterdrückt werden dürfen, wird von Mill in On Liberty explizit thematisiert. Dazu unterscheidet er zwischen drei unterschiedlichen Sachlagen: 1) Die anerkannte Meinung (received opinion) ist falsch; 2) die anerkannte Meinung ist richtig; 3) zwei Meinungen widersprechen einander und beschreiben bei genauerem Hinsehen jeweils nur einen Teil der Wahrheit. In keinem der Fälle darf eine Meinung per se unterdrückt werden.

1) Die Meinung ist falsch. Mill zieht für seine Argumentation erneut das festgestellte erkenntnistheoretische Defizit des Menschen heran (s. Kap. Erkenntnistheoretische Grundlagen). Niemand habe das Recht, ein für alle Mal zu entscheiden, was wahr und was falsch sei. Daneben taucht wieder das Argument auf, dass die Unterdrückung einer Meinung dem Ausschluss einer Person aus dem Diskurs gleichkäme (they have no authority to […] exclude every other person from the means of judging).118 An dieser Stelle zeigt sich, dass die Meinungsfreiheit auch eine gesellschaftsstabilisierende Funktion hat, indem sie für jeden die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs durch Einbringung seiner Gedanken und Vorstellungen prinzipiell ermöglicht. Auch die Unterdrückung einer falschen Meinung mit der Begründung, so für das Gemeinwohl zu handeln, entlarvt Mill als unzulässig. Im Falle einer solchen Argumentation gehe es nämlich gar nicht um die Frage nach der Wahrheit der geäußerten Meinung (die darüber hinaus – man kann es nicht oft genug betont – aus erkenntnistheoretischer Sicht niemals hundertprozentig als falsch bestimmt werden kann). Sie, die falsche Meinung, werde hier vielmehr einer utilitaristischen Betrachtungsweise unterworfen. Dabei basiere die Überzeugung, ob eine Meinung nützlich sei oder nicht, selbst auf einer Meinung, die – zumindest erkenntnistheoretisch – genauso wenig Anspruch auf immerwährende Gültigkeit habe: the assumption of infallibility is merely shifted form one point to another.119

2) Die Meinung ist richtig. Es scheint auf den ersten Blick selbstverständlich, dass richtige Meinungen nicht unterdrückt werden dürfen. Gleichwohl ist es interessant Mills Argumentationsstrang auch in diesem Fall zu folgen. Prinzipiell wäre es ja denkbar, dass Selbstverständlichkeiten nicht mehr diskutiert werden müssten. Im deutschen Ökologiediskurs (Diskurs hier ausnahmsweise im Sinne Foucaults) gilt es beispielsweise zurzeit als vollkommen gewiss, dass menschliches Handeln für die allmähliche Zunahme der Erdtemperatur der bestimmende Faktor sei. Aus Mills Sicht müsste diese Meinung trotz ihrer allgemeinen Akzeptanz zur Diskussion gestellt werden. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wie gut die gängige Theorie von der Erderwärmung durch wissenschaftliche Befunde gestützt ist, hat doch das Unterbinden einer Diskussion auch in diesem Fall einen nicht unbedeutenden Nachteil:

However unwillingly a person who has a strong opinion may admit the possibility that his opinion may be false, he ought to be moved by the consideration that however true it may be, if it is not fully, frequently, and fearlessly discussed, it will be held as a dead dogma, not a living truth.120

Dass sich die Unterdrückung einer Diskussion zu einem Dogma auswachsen könnte ist für Mill dabei genauso wichtig wie die Tatsache, dass dieses tot ist. Mit der Diskussion stirbt nicht nur das selbständige Denken, sondern auch das Gefühl für die ursprünglichen Gründe der Meinung. Mit der Meinung werden am Ende keine Ideen mehr verknüpft, nur noch Ideenhülsen (shell and husk […] of the meaning) bleiben zurück.121 Überträgt man diese Lesart auf das Beispiel des Holocaustleugners müsste man zu dem Schluss kommen, dass es zum Beispiel im Schulunterricht nicht darum gehen kann, dass am Ende jeder Schüler vollends überzeugt davon ist, dass das Ereignis der Judenvernichtung stattgefunden hat. Es kann nicht darum gehen, eine Lehre auswendig zu lernen. Viel entscheidender ist es, dass die Lernenden im Rahmen eines freien, wohlinformierten und rational geführten Diskurses eine eigene Überzeugung entwickelt haben – und in zivilisierter Weise vertreten können.

3) Von zwei Meinungen umfasst jede nur einen Teil der Wahrheit. Diese Konfiguration hält Mill für den häufigsten Fall. Und genau darum nimmt die Institution eines frei geführten Diskurses im millschen Denken eine so zentrale Rolle ein. Da es meistens so ist, dass jeder nur einen Teil der Wahrheit auf seiner Seite verbuchen kann, bedarf es der Ergänzung des anderen, um sich weiterzuentwickeln. Voneinander abweichende Meinungen werden im Gespräch miteinander konfrontiert. Auf der Basis des daraus resultierenden Dissenses entspinnt sich dann eine Diskussion, die in ihrer Konsequenz alle der Wahrheit ein Stückchen näher führt.

[…] every opinion which embodies somewhat of the portion of truth which the common opinion omits, ought to be considered precious, with whatever amount of error and confusion that truth may be blended.122

An dieser Stelle verschmelzen zwei Grundüberzeugungen Mills: die aufgeklärte Annahme von der Perfektibilität des Menschen (s. Kap. Anthropologische Grundlagen) und die von der mangelhaften Erkenntnisfähigkeit des Menschen (s. Kap. Erkenntnistheoretische Grundlagen). Hier wird offenbar, dass Mill die Freiheit als Dreh- und Angelpunkt für die Entwicklungsfähigkeit der gesamten Menschheit sieht. Und weil die Freiheit der Garant für diese Entwicklungsfähigkeit ist, ist sie letztlich auch ein unverzichtbarer Bestandteil seines Utilitarismus. Der Wunsch nach the greatest happiness of the greatest number (Jeremy Bentham) wird durch sie zu einem erreichbaren Ziel. Darum gilt:

[…] the only unfailing and permanent source of improvement is liberty, since by it there are as many possible independent centres of improvement as there are individuals.123

Verwicklung

John Stuart Mills Überlegungen zur Freiheit werden trotz der zahlreichen Aspekte, in die sich sein Freiheitsbegriff auffächert, durch eine wesentliche Größe bestimmt: das Individuum. In Mills erkenntnistheoretischen Überlegungen ist es das Individuum, das sich in den Diskurs einbringt, um gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen; in seinen anthropologischen Vorstellungen wird von der Perfektibilität des Individuums ausgegangen, die einen Fortschritt für die ganze Gesellschaft mit sich bringt; und bei seiner Bestimmung von Größe und Umfang, die der Freiheitsraum des Individuums haben darf, geht es wesentlich um die Frage, wie das Individuum vor dem Zugriff anderer geschützt werden kann und inwieweit es vor ihm geschützt werden muss. Die von Mill beobachtete Frontalstellung von Individuum und Mehrheit lässt sich durchaus als treibender Impuls seiner Untersuchung bezeichnen. Sie gerinnt in der Feststellung: the tyranny of the majority is now generally included among the evils. Der Gegensatz von Individuum und Mehrheit kulminiert in einem einzigen Wort: Tyrannei der Mehrheit.124

Trotz seiner primären Orientierung am Individuum wäre es ein fundamentaler Fehler, würde man in Mill den Verfechter eines radikalen Individualismus sehen. Die Konsequenz aus seinen Überlegungen lautet vielmehr, dass es zu einem Ausgleich zwischen den einander entgegengesetzten Polen Individuum und Gesellschaft kommen muss. Mills Harm Principle ist ein Lösungsversuch für diesen notwendigen Ausgleich. Es ist der Versuch, die Folgen eines radikalen Individualismus, der dem Einzelnen jede nur erdenkliche Freiheit lässt, abzufedern, um größtmögliche Freiheit für das Individuum und größtmöglichen Nutzen für die Gesellschaft zu gewährleisten. Man sieht deutlich, wie Mills utilitaristische Vorstellungen seine Lösung grundieren. Seine Bestimmung der Größe des Freiheitsraums zielt darauf ab, Widersprüche zwischen subjektiven Vorlieben des Einzelnen und objektivem Nutzen der Gemeinschaft aufzulösen. The greatest happiness of the greatest number ist die utilitaristische Chiffre für das Amalgamieren dieser beiden Pole.

Die kritische Frage ist, wie weit staatliche Institutionen ihre Schutzfunktion für das Individuum interpretieren dürfen oder müssen, inwieweit sie berechtigt sind Individualfreiheiten einzuschränken, um gesellschaftliche Freiheiten zu garantieren. Und in just diese Frage sind die Demokratien des 21. Jahrhunderts in gleicher Weise verwickelt, wie es das Britische Königreich des 19. Jahrhunderts war.125 Angesichts der gegenwärtigen Diskussionen liegt es darum nahe, Mills Überlegungen auf die mehr gefühlte als reale, aber eben auch nicht ganz irreale Bedrohung durch islamistische Terroristen anzuwenden. Wie weit dürfen staatliche Schutzmaßnahmen gegen diese Gefahr gehen, ohne das prekäre Gleichgewicht zwischen den Interessen von Individuum und Gesellschaft zu gefährden?

Eine eindeutige Antwort auf die Frage scheint kaum möglich, auch weil die Überwachungs- und Präventionsmaßnahmen, mit denen auf das Problem reagiert wird, so stark voneinander divergieren. Eine versuchsweise Antwort anhand eines spezifischen Beispiels ist aber zumindest denkbar. Bei der Diskussion der vorgeschlagenen Sicherheitsmaßnahmen fällt nämlich eins ins Auge: Es wird grundsätzlich mit einer virtuell betroffenen Menschenmenge operiert. Das einzelne Individuum, das durch eine Maßnahme affiziert wird, geht in dieser Menge auf – oder unter. Das will und kann nicht zu der individualistischen Stoßrichtung von Mills Philosophie passen, der solche Prämissen in jedem Fall zuwiderlaufen. Selbst dort, wo es in seinen Texten um den Nutzen für die größte Zahl geht (nämlich in seinen utilitaristischen Erwägungen), nehmen Mills Gedanken immer ihren Ausgang vom einzelnen Subjekt. Dessen Missachtung lässt sich allerdings in Reinform bei Vorschlägen zum Abschuss von durch Terroristen entführten Passagierflugzeugen beobachten. Denn die Argumentation der Befürworter der Notmaßnahme des Abschusses setzt voraus, dass die an der Entführung nicht beteiligten Passagiere keinen Subjektstatus mehr haben.126 Indem man die Passagiere vorzeitig für tot erklärt, werden sie gleichsam ausgeblendet. So beschäftigen sich alle Erwägungen letztlich nur noch mit denjenigen, die außerhalb des Flugzeugs durch einen Absturz betroffen werden könnten (könnten!). Da diese Personen einer Menge angehören, die sich weder quantitativ noch lokal bestimmen lässt, stellt sich aber die Frage, ob diese Personen überhaupt als existent apostrophiert werden können. Schließlich lässt sich nicht einmal mit hinreichender Gewissheit sagen, dass es überhaupt Opfer geben wird. Wenn aber die Existenz der Opfer selbst fragwürdig ist, wäre der Abschuss des Flugzeugs die Todesstrafe für einen Mörder, der nicht gemordet hat, von dem nicht gewiss ist, ob er morden wird, und einer mehr oder minder großen Menge an Passagieren, die nicht einmal vorhaben zu morden. Die skizzierte Bedrohungslage zeichnet sich wesentlich durch ihre empirische Unterbestimmtheit aus. Nun ist den von Mill in On Liberty gegebenen Beispielen allen gemein, dass in ihnen die Entscheidung zur Beschneidung der Freiheit eines Individuums allein kontextabhängig getroffen wird. Die propagierte Meinung, Kornhändler würden die Bevölkerung aushungern, darf erst dann unterdrückt werden, wenn sie dazu geeignet ist, Leib und Leben eines konkreten Kornhändlers zu gefährden.127 Da die Folgen im Falle der Flugzeugentführung aber nicht absehbar sind, würde die Freiheit der Individuen im Falle eines Abschusses vorschnell beschnitten. Zur Freiheit dieser Individuen gehört es im Übrigen, gegen den drohenden Tod zu kämpfen.128 Egal, wie gering die Erfolgsaussichten gegenüber Luftpiraten auch sein mögen – prinzipiell ist die Möglichkeit gegeben, das eigene Leben durch aktive Widerstandshandlungen zu retten.129

Um die komplizierte Gemengelage dieses Falls ausführlich zu diskutieren, ist hier nicht der Ort. Zum Beispiel wäre auch zu berücksichtigen, dass noch der Absturz von Wrackteilen eines abgeschossenen Flugzeugs zu Toten führen kann. Dies würde natürlich auch für den Fall gelten, wenn nur Terroristen und keine unbeteiligten Dritten im Flugzeug säßen usw. Gleichwohl sollte an dieser kurzen Erörterung ein wesentlicher Punkt klar geworden sein. Bei der Verabschiedung derartiger Gesetze wird nicht vom Individuum zur Masse, sondern über die Masse unter Ausschluss des Individuums gedacht, und das, obwohl hier neben vielem anderen in besonderem Maße die individuelle Handlungsfreiheit zur Disposition steht.

Zumindest erwähnt werden sollte darüber hinaus, dass es im Kontext der Terrorprävention zu noch ganz anders gelagerten Eingriffen in den Raum individueller Freiheiten kommen kann. Die Kontrolle der Gesinnung, die man versucht aus der Beobachtung des individuellen Verhaltens abzuleiten (Besuch bestimmter Moscheen, Reisen in bestimmte Länder usw.), ist zu einem wichtigen Werkzeug geheimdienstlicher Präventionsmaßnahmen geworden.130 Eine solche Art von Rasterfahndung birgt selbstredend die Gefahr, dass nicht nur Verbrecher, sondern auch Unschuldige ins Fadenkreuz der staatlichen Kontrolle geraten. Das Abwehrmittel, das den Individuen bleibt, die Gefahr laufen, in Verdacht zu geraten, lautet: vorauseilende Verhaltenskorrektur. Da das staatlicherseits erwünschte Verhalten aber nicht hinsichtlich jedes Details bekannt ist, läuft selbst ein anpassungswilliges, duckmäuserisches Individuum Gefahr, gegen die ihm unbekannten Verhaltenskodizes zu verstoßen. Auf diese Weise wird allmählich ein Zustand erreicht, in dem es nicht mehr möglich ist, den Staat durch rechtmäßiges Betragen auf Distanz zu halten.131

Diese Diskussion ist natürlich dann, wenn es um einen konkreten Fall gehen würde, genauso akademisch, wie einige von Mills Prinzipien idealistisch sind. Der freie und unbeschränkte Diskurs, den Mill als Kernmethode zur Verbesserung fehlerhaften Denkens propagiert, gehört dazu. Er muss ebenfalls in den Raum des Idealismus verwiesen werden. Schließlich ist er in der von Mill beschriebenen Form allenfalls als Werkzeug einer kleinen, geschulten Elite denkbar.132 Die Diagnose, dass der Mensch als grundsätzlich fehlbares Wesen, eines solchen Korrekturmodus bedarf, scheint jedoch in jedem Fall richtig. Als generell applizierbares Remedium für dieses Defizit ist er gleichwohl nur bedingt geeignet, gerade weil an ihm nur theoretisch alle teilnehmen können, die Teilnahme praktisch jedoch an intellektuelle und Bildungsvoraussetzungen geknüpft ist, die nicht jeder mitbringt. Tatsächlich scheinen große Menschenmengen eher durch Erregungszustände als durch gemächliches Abwägen und vorurteilsfreies Sichten der gegebenen Optionen bewegt zu werden. Aber verschiedene Optionen, Alternativen, die gibt es immer, auch wenn eine antidiskursiv agierende Einschläferin des Politischen von Zeit zu Zeit mit Aplomb das Gegenteil, nämlich Alternativlosigkeit behauptet. Dass das Individuum durch eine rein emotional agierende Menge substantiell bedroht ist, dass das Individuum in ihr zu verschwinden droht, ist eine wesentliche Erkenntnis Mills. Dass er darüber hinaus zeigt, wie von der kleinsten Einheit der Masse, vom Einzelnen her gedacht werden kann und wie viel auf dem Spiel steht, wenn dies nicht getan wird, scheint auch in den aktuellen Freiheitsdiskussionen höchst bedenkenswert. Schließlich kann sich die Masse maximal so weit bewegen, wie es die Individuen können, die sie konstituieren. Darum kommt eine allzu enge Grenzziehung individueller Betätigungsmöglichkeiten einer Beschränkung der Gesamtheit gleich.

Genau diese Beschränkung scheint gegenwärtig nur in ungenügendem Maße mitbedacht zu werden, wenn umfassende, tiefgreifende Schutzmaßnahmen gegen eine diffuse nach allen Erfahrungen jedoch äußerst geringe Terrorgefahr beschlossen werden. In aller Regel fehlt es an der nötigen Geduld und Gründlichkeit in der Folgenabschätzung, die politischen Entscheidungsträger agieren wie getrieben und überhastet. Wie in der eingangs zitierten Xenie wird voller Emphase der Sprung gewagt, ohne die Folgen ausreichend bedacht zu haben.

Anmerkungen

1 Johann Wolfgang Goethe: Die unglückliche Eilfertigkeit, in: Ders.: Gedichte 1756–1799, hrsg. v. Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 551. Die Xenie von 1796 ist wohl auf Johann Georg Forster gemünzt, der sich am Aufbau einer revolutionären Mainzer Republik beteiligte.

2 Diskurs wird hier und im Folgenden nicht im Sinne Foucaults verwendet (oder besser: in einem der verschiedenen Bedeutungen, die der Begriff bei Foucault hat). Diskurs soll vielmehr einen offen geführten, dialogartigen, gesellschaftlichen Aushandlungsprozess beschreiben, womit er Gespräch und Diskussion näher steht als dem foucaultschen Diskursbegriff.

3 Einige Formulierungen legen letzteres zumindest nahe, z. B.: free people will set the course of history. Oder: we will bring to the Iraqi people food and medicines and supplies and freedom. George W. Bush: Address Before a Joint Session of the Congress on the State of the Union. January 28th, 2003, in: The American Presidency Project, hrsg. v. John T. Woolley u. Gerhard Peters.

4 Americans are a free people, who know that freedom is the right of every person and the future of every nation. (Ebd.)

5 Eine neuere philosophische Stellungnahme zu diesem Thema bietet Michael Pauen: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2004. Zu Mills Konzeption der Willensfreiheit vgl. Peter Rinderle: John Stuart Mill, München 2000, S. 57 f.

6 John Stuart Mill: On Liberty, in: Ders.: On Liberty and Other Essays, hrsg. v. John Gray, Oxford/New York 1998, S. 1–128, hier 5.

7 Vgl. ebd., S. 5 f.

8 Thomas Hobbes: Leviathan, übers. v. Jutta Schlösser, hrsg. v. Hermann Klenner, Hamburg 1996, S. 102.

9 Ebd., S. 103.

10 Ebd., S. 108.

11 Ebd., S. 80.

12 Ebd., S. 81.

13 Ebd., S. 145; Hervorhebungen i. O.

14 Hobbes betont immer wieder, dass dieser Souverän aus einer natürlichen Person oder einer Gruppe natürlicher Personen bestehen könne. Pflegt Hobbes auch eine Vorliebe für die Monarchie, so hält er diese beileibe nicht für die einzige Staatsform, auf die seine Analyse zutrifft.

15 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenes der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973, S. 19: Der Individualismus von Hobbes ist als die Voraussetzung eines geordneten Staates gleichzeitig auch die Bedingung für die freie Entfaltung des Individuums.

16 Vgl. Christopher Hill: The Century of Revolutions. 1603–1714, 2. Aufl., Wokingham 1984, S. 196.

17 So ebd., S. 150.

18 Z. B. Hobbes: Leviathan (wie Anm. 8), S. 153 f.

19 Vgl. zur Institution des King in Parliament Hans-Christoph Schröder: Die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, S. 13–20.

20 So Koselleck: Kritik und Krise (wie Anm. 15), S. 26.

21 Vgl. zur Ausdifferenzierung der öffentlichen und privaten Sphäre Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990.

22 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders.: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. v. Horst D. Brandt, Hamburg 1999, S. 3–19, hier 7: Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen […]. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen […]. Diese Passage kann m. E. als eine Paraphrase der negativen Anthropologie von Hobbes gelesen werden, die aus der Sicht Mills nicht durch die Einsetzung eines absoluten Souveräns ins Positive gewendet werden konnte.

23 Vgl. Hermann Klenner: Einführung. Hobbes – der Rechtsphilosoph und seine Rechtsphilosophie, in: Thomas Hobbes: Leviathan, übers. v. Jutta Schlösser, hrsg. v. Hermann Klenner, Hamburg 1996, S. XIII–XLI, hier XXXVI f. Im Vorfeld der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung sind Ende des 18. Jahrhunderts bereits Überlegungen dazu angestellt worden, wie die Minderheit der Gesellschaft vor den Interessen der Mehrheit geschützt werden können; vgl. Reinhold Zippelius: Geschichte der Staatsideen, 10., neu bearb. u. erw. Aufl., München 2003, S. 113.

24 Vgl. Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 6 f.

25 Ebd., S. 8; Hervorhebung i. O.

26 Auch diesen Prozess erkannte Mill bereits: In politics it is almost a triviality to say that public opinion now rules the world. The only power deserving the name is that of masses, and of governments while they make themselves the organ of the tendencies and instincts of masses. (Ebd., S. 73)

27 In Rousseaus Contrat Social (1762) wird bereits deutlich, wie groß die Macht der Mehrheits- über eine Einzelmeinung sein kann: Der Wille aller, der sich im Gemeinwillen manifestiere, könne nur dann existieren, wenn die Einzelmeinungen nicht fundamental voneinander abwichen. Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übers. v. Eva Pietzcker u. Hans Brockard, hrsg. v. Hans Brockard, Stuttgart 2004, S. 30 f. Da der Gemeinwille für die Existenz des Staatswesens in Rousseaus Theorie fundamental ist, müssen abweichende Meinungen eingeebnet werden, um die Funktion des Staates sicherzustellen. In diesem Staat gibt es dann zwar bürgerliche Freiheit; diese ist jedoch durch den Gemeinwillen begrenzt. (Ebd., S. 22) Rousseau verfasste somit eine Staatstheorie, in der ein hohes Maß an Individualität als Hindernis für die Meinungsbildung erscheint.

28 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 8 f.

29 Vgl. Daniel Jacobson: Mill on Liberty, Speech, and the Free Society, in: Philosophy and Public Affairs 29 (2000), S. 276–309, der immer dann von Mills Doctrine of Liberty spricht, wenn er einen Individualraum adressiert, in dem man frei von sozialen Zwängen ist.

30 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 14.

31 Ebd., S. 2: The grand, leading principle, towards which every argument unfolded in these pages directly converges, is the absolute and essential importance of human development in its richest diversity. Die Übersetzung von Mill ist offenbar sehr frei, der Originalsatz lässt sich nicht eindeutig ausmachen. Vermutlich handelt es sich um den folgenden: Nach dem ganzen vorigen Räsonnement kommt schlechterdings alles auf die Ausbildung des Menschen in der höchsten Mannigfaltigkeit an; Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stuttgart 2006, S. 69.

32 Humboldt: Ideen (wie Anm. 31), S. 42 konstatiert z. B., dass der Staat überhaupt von der Ehe seine ganze Wirksamkeit entfernen und dieselbe vielmehr der freien Willkür der Individuen und der von ihnen errichteten mannigfaltigen Verträge […] gänzlich überlassen sollte. Mill stimmt mit ihm darin überein, dass die Ehe ein Vertrag sei, der in beiderseitigem Einverständnis gelöst werden kann. Allerdings weist er nicht nur auf die rechtliche Seite, sondern auch auf moralische Verpflichtungen hin, die einer solchen Auflösung entgegenstehen könnten; vgl. Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 114 f. – Neben den genannten, klar belegbaren Einflüssen Mills gibt es auch historisch kontextuelle, die nur erschlossen werden, aber nicht direkt belegt werden können. Nicht unwichtig dürfte bspw. die Chartistenbewegung gewesen sein, die für eine Verfassungsreform v. a. hinsichtlich des Wahlrechts eintrat. Vgl. John Michael Roberts: John Stuart Mill, free speech and the public sphere. A Bakhtinian critique, in: The Sociological Review 52, Supplement 1 (2004), S. 67–87, hier 73–75.

33 Humboldt: Ideen (wie Anm. 31), S. 198 f.

34 So verfährt z. B. Bernd Gräfrath: John Stuart Mill: Über die Freiheit. Ein einführender Kommentar, Paderborn u. a. 1992.

35 Vgl. Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 22 u. S. 63.

36 Vgl. ebd., S. 22 f.

37 T. D. Campbell: John Stuart Mill and Freedom of Speech, in: Pensiero politico 4 (1971), S. 443–450, hier 444 zeigt schön den inneren Zusammenhang zwischen Mills Grundannahme von der Fehlbarkeit des Menschen und seiner Forderung von freien Diskussionen auf: a person would be justified in silencing opinions if, and only if, he were infallible.

38 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 26.

39 Campbell: John Stuart Mill (wie Anm. 37), S. 445 unterscheidet zwischen dogmatic certainty und rational certainty, wobei die zweite (millsche) Form der Gewissheit für Revisionen offen sei. Vgl. auch John F. Tinkler: J. S. Mill as a Nineteenth-Century Humanist, in: Rhetorica 10 (1992), S. 165–191, hier 185 zu Vorläufern von Mills Diskurstheorie.

40 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 26.

41 Karl Popper: Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit. Die Suche nach einer besseren Welt, in: Ders.: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, 3. Aufl., München/Zürich 1988, S. 11–40, hier 12.

42 Vgl. zur Modifikation von Hypothesen ebd., S. 51.

43 Ebd., S. 13.

44 Ebd.; Hervorhebung i. O. Struan Jacobs: From Logic to Liberty. Theories of Knowledge in Two Works of John Stuart Mill, in: Canadian Journal of Philosophy 16 (1986), S. 751–767, hier 759 weist auf Unterschiede zwischen Mill und Popper hin.

45 Die wesentlichen Züge finden sich in Popper: Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit (wie Anm. 41), S. 16–37.

46 Vgl. ebd., S. 37.

47 Die Formulierung give the truth a chance of reaching us würde dem insofern widersprechen, als hier v. a. ein passives Moment anklingt; Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 26.

48 Ebd., S. 22 f.

49 Ebd., S. 22.

50 In Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, übers. v. Ludwig Schmidts, 6. Aufl., Paderborn u. a. 1983, S. 267 heißt es: Der Glaube der Kinder und der vieler Erwachsener ist eine Sache der Geographie. Sollen sie dafür belohnt werden, weil sie in Rom und nicht in Mekka geboren sind? Dem einen sagt man: Mohammed ist der Prophet Gottes, und er wiederholt: Mohammed ist der Prophet Gottes. Dem anderen sagt man: Mohammed ist ein Betrüger, und er wiederholt: Mohammed ist ein Betrüger. Jeder hätte das Gegenteil behauptet, wenn er an dessen Platz gewesen wäre.

51 Man kann durchaus darüber streiten, ob Rousseau der Aufklärungsphilosophie zuzurechnen ist oder nicht. Dies zu diskutieren, ist hier nicht der Ort. Ungeachtet der kulturkritischen Überlegungen aus seinem Ersten Diskurs (1750) zähle ich ihn dazu.

52 Der Gedanke findet sich in Kants Werk immer wieder, z. B. in Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (wie Anm. 22), S. 5: Die Vernunft bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten. Daher würde ein jeder Mensch unmäßig lange leben müssen, um zu lernen, wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle; oder, wenn die Natur seine Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirklich geschehen ist), so bedarf sie einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist.

53 Dieser Gedanke findet sich u. a. auch in Mills System of Logic (1843); vgl. Jacobs: From Logic to Liberty (wie Anm. 44), S. 755.

54 Vgl. Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 24: If there really is this preponderance [of rational opinions and rational conduct …] it is owing to a quality of the human mind […] that his errors are corrigible.

55 Vgl. hierzu Rinderle: John Stuart Mill (wie Anm. 5), S. 35–37, der den Empirismus ebenfalls als Grundmotiv (S. 9) des millschen Denkens bezeichnet.

56 Vgl. Hobbes: Leviathan (wie Anm. 8), S. 22.

57 Ebd., S. 52. Vgl. zu Mill auch Roberts: John Stuart Mill (wie Anm. 32), S. 77.

58 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 25.

59 Vgl. für einen Blick auf das Problem aus historischer Sicht Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 3., verb. Aufl., Frankfurt a. M. 2002, S. 381–389.

60 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 119.

61 The only proof capable of being given that an object is visible, is that people actually see it. John Stuart Mill: Utilitarianism, in: Ders.: On Liberty and Other Essays, hrsg. v. John Gray, Oxford/New York 1998, S. 129–201, hier 168.

62 Vgl. Rinderle: John Stuart Mill (wie Anm. 5), S. 112–119.

63 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 39.

64 Ebenso wenig wie das Nachgeben gegenüber (tierischen) Instinkten. Vgl. Mill: Utilitarianism (wie Anm. 61), S. 176.

65 Vgl. Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 39. Wichtig ist Mill, dass nicht nur die intellektuelle Oberklasse sich dieses eigenständigen Denkens bemächtigen sollte: it is as much and even more indispensable, to enable average human beings to attain the mental stature which they are capable of. (Ebd.)

66 Humboldt: Ideen (wie Anm. 31), S. 22.

67 Mill: Utilitarianism (wie Anm. 61), S. 145.

68 Ebd.: I do not mean that [mind] of a philosopher, but any mind to which the fountains of knowledge have been opened, and which has been taught, in any tolerable degree, to exercise its faculties.

69 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 66.

70 Ebd., S. 59.

71 Auf die entsprechenden Passagen wird bereits in Anm. 32 verwiesen.

72 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 63.

73 Rinderle: John Stuart Mill (wie Anm. 5), S. 87 f. plädiert auch für eine Revision der traditionellen Lesart; John Gray: Introduction, in: John Stuart Mill: On Liberty and Other Essays, hrsg. v. John Gray, Oxford/New York 1998, S. VII–XXX, hier XII–XX weist auf einige bedenkliche Inkompatibilitäten der beiden Theorien in anderer Hinsicht hin.

74 Mill: Utilitarianism (wie Anm. 61), passim.

75 Ebd.

76 Vgl. zu den Spielarten und Grundprinzipien utilitaristischen Denkens Günter Fröhlich: Mill und der Utilitarismus, in: Ders.: Nachdenken über das Gute. Ethische Positionen bei Aristoteles, Cicero, Kant, Mill und Scheler, Göttingen 2006, S. 103–121, hier 103–106. Mill kann man m. E. als einen hedonistischen Regelutilitaristen bezeichnen: hedonistischer Utilitarist wegen seiner Betonung des Vergnügens, Regelutilitarist wegen seiner Ansicht, dass die aus vorherigen Erfahrungen gebildeten Regeln für ein richtiges Verhalten in konkreten Situationen herangezogen werden können und sollen. Vgl. zum letzten Punkt Mill: Utilitarianism (wie Anm. 61), S. 155 f.

77 Die Möglichkeit subjektive und objektive Prinzipien miteinander zu verknüpfen wird auch durch Mills Naturbegriff begünstigt. Natur ist für ihn anders als in älteren utilitaristischen Lehrgebäuden gerade nicht eine ein für alle Mal festgelegte Entität, sondern dynamisch. Eine Vorstellung, die auf seine soziologischen Überlegungen ausstrahlt. Vgl. Gal Gerson: From the State of Nature to Evolution in John Stuart Mill, in: American Journal of Politics and History 48 (2002), S. 305–321.

78 Mill: Utilitarianism (wie Anm. 61), S. 139.

79 Ebd. Daneben weist Roberts: John Stuart Mill (wie Anm. 32), S. 67 mit Recht darauf hin, dass die häufige Betonung elitärer Standards in Mills Schriften letztlich auch als Restriktion des Kreises gelesen werden müsse, für den z. B. die Gewähr der freien Meinungsäußerung gelte.

80 Mill: Utilitarianism (wie Anm. 61), S. 140.

81 Ebd., S. 142, klarer formuliert noch einmal auf S. 148.

82 Die Formel the greatest happiness of the greatest number (zit. n. Alexander Ulfig: Lexikon der philosophischen Begriffe, 2. Aufl., Wiesbaden 1999, S. 442, s. v. Utilitarismus) geht auf Jeremy Bentham zurück, einen engen Freund von James Mill, John Stuarts Vater.

83 Mill: Utilitarianism (wie Anm. 61), S. 150. – Die Passage könnte durchaus als indirektes Zitat der Bienenfabel (The Fable of the Bees, 1705) von Bernard Mandeville verstanden werden. Bei dem Text handelt es sich um einen der frühen Beiträge des 18. Jahrhunderts zur Diskussion, inwiefern eigennütziges Handeln sich zum besten der Gesellschaft auswirke. Mandeville beschreibt in seinem versifizierten Schlüsselstück (das eindeutig auf die konstitutionellen und sozialen Verhältnisse Englands Bezug nimmt) eine Bienengesellschaft, in der sich fast jedes Mitglied eigennützig, betrügerisch, hinterlistig verhält. Thus every part was full of Vice, / Yet the whole Mass a Paradise (S. 9). Am Ende steht trotz der vielen Vergehen im Einzelnen die beruhigende Moral: So Vice is beneficial found, / When it’s by Justice lopt and bound (S. 24). Bernard Mandeville: The Grumbling Hive: or, Knaves turn’d Honest, in: The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits, 3. Aufl., London 1724, S. 1–24. Das Eigennutzparadigma erlangte nicht nur durch diesen, sondern mehr noch durch Adam Smith’ Wealth of Nations (1776) große Popularität.

84 Vgl. ebd., S. 154.

85 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 64 f.

86 Ebd., S. 21.

87 John Stuart Mill: The Subjection of Women, in: Ders.: On Liberty and Other Essays, hrsg. v. John Gray, Oxford/New York 1998, S. 469–582, hier 489.

88 Nebenbei würde dieses Vorgehen gegen das Prinzip der Unparteilichkeit verstoßen, die Fröhlich: Mill und der Utilitarismus (wie Anm. 76), S. 112 als eines der Hauptprinzipien des millschen Utilitarismus ausmacht.

89 Vgl. Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 38 f.

90 Mill: Subjection of Women (wie Anm. 87), S. 576.

91 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 13 f.

92 Ebd., S. 14.

93 Ob Mill hier sprachliche Handlungskonzepte, wie sie in der in den 1950er-Jahren entwickelten Sprechakttheorie von John L. Austin (How to do things with Words) beschrieben werden, schon mitdenkt, darf bezweifelt werden. Spricht Mill von einer action, dann wird er wohl eher an eine körperliche Handlung und nicht den Handlungsvollzug durch einen Sprechakt gedacht haben.

94 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 16.

95 Ebd., S. 62.

96 Es ist mithin durchaus nicht so wie Clark W. Bouton: John Stuart Mill. On Liberty and History, in: Western Political Quarterly 18 (1965), S. 569–578, hier 573 feststellt: the plea was made [in On Liberty] for liberty of discussion in the strongest terms, seemingly oblivious of the dangers involved.

97 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 16.

98 Ebd., S. 17.

99 Ebd.

100 2008 wurde das Kopftuchverbot für Studentinnen aufgehoben. Vonseiten der laizistischen Kemalisten ist das Tragen eines Kopftuchs als islamistische Positionierung verstanden und darum unterdrückt worden.

101 BVerfG, 1 BvR 471/10 vom 27. 1. 2015, hier Abs. 80 bzw. 85.

102 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 17.

103 Art. 9, Abs. 1 GG: Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.

104 Auf diese Weise könnte man natürlich auch Rechtssetzungen als Einmischung in das eigenmächtige Wirken lesen. Eine postmoderne Lesart geht sogar so weit, dass sie Rechte nur als Vorteil weniger und Nachteil vieler begreift; vgl. Karen Zivi: Cultivating Character. John Stuart Mill and the Subject of Rights, in: American Journal of Political Science 50 (2006), S. 49–61, die gegen diese Lesart votiert.

105 Gerson: From the State of Nature to Evolution (wie Anm. 77), S. 319 versteht diese offene Definition als eine Folge von Mills Naturbegriff, der analog dazu offene Entwicklungen impliziere. Den Ausdruck Harm Principle verwendet Mill nicht, er wird allerdings in der Forschung gebraucht, um die Einschränkung der Freiheit aus Selbstschutzgründen zu fassen. So z. B. bei Jacobson: Mill on Liberty (wie Anm. 29), passim.

106 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 14.

107 Zur Entwicklung dieses Gedankens s. ebd., S. 14 f. Vgl. auch Mark Tunick: John Stuart Mill and Unassimilated Subjects, in: Political Studies 53 (2005), S. 833–848.

108 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Ders.: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. v. Horst D. Brandt, Hamburg 1999, S. 20–27, hier 20.

109 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 15; Hervorhebung N. D.

110 Diese Einstellung grundiert alle seine Essays. Vgl. z. B. Mill: Subjection of Women (wie Anm. 87), S. 476 f.

111 Selbst in den USA, in denen das Recht auf Meinungsfreiheit stärker bewehrt ist als in Deutschland, kann die Holocaustleugnung unter Umständen zivilrechtlich verfolgt werden. Vgl. die bei Wikipedia zu findende Liste der Staaten, die Gesetze gegen Holocaustleugnung haben.

112 Vgl. zu Begrifflichkeit und Interpretation des Sachverhalts Siegfried Kohlhammer: Die Vergangenheit gebrauchen zum Nutzen der Gegenwart!. Das Nanking-Massaker und die chinesische Geschichtspolitik, in: Merkur 61 (2007), S. 594–603.

113 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 20; Hervorhebung N. D.

114 Ebd., S. 39.

115 So z. B. ebd., S. 57: I think it is a great error to persist in attempting to find in the Christian doctrine that complete rule for our guidance.

116 Ebd., S. 18.

117 Mill: Subjection of Women (wie Anm. 87), S. 474 f. Vgl. zu Mills Geschichtsbegriff Bouton: John Stuart Mill (wie Anm. 96).

118 Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 20.

119 Ebd., S. 27.

120 Ebd., S. 40; Hervorhebung N. D.

121 Vgl. ebd., S. 45.

122 Ebd., S. 52.

123 Ebd., S. 78.

124 Ebd., S. 8. Dieser scharfe Gegensatz ist deshalb möglich, weil Mill die Gesellschaft noch als eine Einheit betrachtet; vgl. z. B. Roberts: John Stuart Mill (wie Anm. 32), S. 77; Zivi: Cultivating Character (wie Anm. 104), S. 52; Jean-Claude Wolf: Variationen zu millschen Themen. Das rechtsphilosophische opus magnum von Joel Feinberg, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), S. 454–464, hier 456. Aus heutiger Sicht scheint diese Haltung zurecht unterkomplex.

125 Vgl. auch John Gray: John Stuart Mill and the Future of Liberalism, in: Contemporary Review 229 (1976), S. 138–145, der die Aktualität Mills ebenfalls betont.

126 Vgl. BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15. 2. 2006, Abs. 121 zur entsprechenden Änderung des Luftsicherheitsgesetzes: Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers […] schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen. Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt.

127 Vgl. Mill: On Liberty (wie Anm. 6), S. 62.

128 Schon Hobbes sah dies als eine irreduzible Freiheit eines jeden Individuums an: […] wie ich zuvor darlegte, kann niemand sein Recht übertragen oder aufgeben, sich vor Tod, Verwundungen und Einkerkerung zu schützen; Hobbes: Leviathan (wie Anm. 8), S. 117.

129 Am 11. September 2001 kam es auf dem sogenannten Flug 93 tatsächlich zu einer Revolte. Die Passagiere (und Terroristen) starben zwar trotzdem, allerdings ohne Dritten zu schaden. Das Flugzeug stürzte über freiem Gelände ab.

130 Vgl. Uwe Volkmann: Der alltägliche Ausnahmezustand oder: Not kennt kein Gebot, in: Merkur 62 (2008), S. 369–379.

131 Ebd., S. 375. Volkmann paraphrasiert hier den Verfassungsrichter Dieter Grimm.

132 Vgl. dazu auch Anm. 79.